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“Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden.”

Friedrich Nietzsche,
Aus: Ecce homo,
Warum ich so klug bin, 1

Wider den Vorurteilen

Mit Fassbinders Schauspiel „Angst essen Seele auf“ brachte das Annaberger Theater ein wichtiges Stück zur richtigen Zeit auf die Bühne. Mit herausragenden Leistungen hält die bedrückend aktuelle Inszenierung dem Kleinbürgertum – auch in Annaberg – den Spiegel vor. Aus Angst, sich darin vielleicht selbst zu erkennen, sind viele der Betroffenen erst gar nicht zur überaus erfolgreichen Premiere gekommen.

Obwohl Rainer Werner Fassbinder den Film „Angst essen Seele auf“ bereits 1974 in die Kinos brachte, hat das Thema an Aktualität nichts verloren. Ganz im Gegenteil: In der Annaberger Inszenierung des auch international renommierten Regisseurs Karl Georg Kayser bekommt die Problematik erschreckende und verstörende Realitätsbezüge. Angst-HP2-169 (Andere)
Wenn auch die Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik von vor 40 Jahren nicht 1:1 auf die heutigen Verhältnisse im Gesamt-Deutschland, aber insbesondere auf Sachsen, übertragbar sind, so bleiben doch Grundmuster des deutschen Kleinbürgers, der der irrigen Auffassung ist, dass er das Volk sei, zeit- und grenzüberschreitend aktuell: Feigheit, Ängstlichkeit, Empathieverluste, Neid, Anpasslertum, Borniertheit, Bildungsmangel, Weltunerfahrenheit, Egoismus und Patriotismus, der eigentlich Nationalismus und Chauvinismus bedeutet – sind nur einige der immer wieder anzutreffenden Eigenschaften, jener „Retter des Abendlandes“, wie sie in konzentrierter und mitunter theatralisch zugespitzter Form auf unserer Bühne gezeigt werden.
Langanhaltender Applaus, länger als bei so mancher Premiere in den zurückliegenden Monaten, dankte den DarstellerInnen für einen Abend, bei dem zugeschaut werden konnte, wie meist unbegründete Ängste vor dem Fremden einzelne Seelen regelrecht auffressen können.

Neben den beiden Hauptrollen Emmi und Ali, standen die zahlreichen Kleinbürger im Zentrum des Geschehens: Die Kinder von Emmi, die sich ihrer verwitwete Mutter schämen, weil sie sich mit einem 20 Jahre jüngeren Ausländer einlässt und diesen auch noch heiratet. Treffend verkörpert von Dennis Pfuhl als Sohn Bruno (mit einem großartig gespielten Jähzorn-Ausbruch). Der Lebensmittelhändler, der sich im gekonnten „Gewandhaus-Sächsisch“ zunächst weigert, Emmi zu bedienen, dann aber seinen mitunter offen vorgetragenen Rassismus hinter den Geschäftsinteressen zurückstellt. Großartig wie immer - in dieser und weiteren Rollenfeinzeichnungen - Udo Pruchar.
Da bis auf das Hauptrollenpaar Emmi und Ali alle anderen Protagonisten mehrere Figuren zu spielen haben, konnte auch wieder der überaus wandlungsfähige und prononciert über die Rampe kommende Marvin Thiede in mehreren Rollen von seinem Verwandlungstalenten sehr ansprechend profitieren. Angst-HP2-305 (Andere)
Bei den Frauen war es Marie-Luise von Gottberg, die als Katharina, Frau Karges, Paula und als Händlerin immer wieder neu mit gekonnten Figurenzeichnungen überraschte. Auch Gisa Kümmerling brillierte in etlichen Rollen, hatte aber ihre stärksten Auftritte als Kneipenwirtin Barbara, die sich ohne jegliche Ängstlichkeit mit Fremden umgibt, nicht nur weil sei davon lebt, sondern sie auch – mitunter – liebt.
Nachbarn und Arbeitskollegen werden vom Regisseur Kayser bewusst mit ihren Klischees auf die Szene gebracht, die in der 70er Jahre-Ausstattung und sehr funktional-flexiblem Bühnenbild (Frank Chamier) ebenfalls an Aktualität nichts eingebüßt haben. Man könnte meinen, die Zeit ist nicht nur im schwülstigen Kitsch-Design, sondern auch in den Denk- und Verhaltensmustern stehen geblieben. Diese frappierende Ähnlichkeit, diese zwar theatralisch überhöhte, aber dennoch nahezu fotorealistisch abgebildete Wirklichkeit vor unserer Haustür, in unseren Büros, an gewissen Stammtischen, in g(w)utbürgerlichen Wohnzimmern oder auch in Kreisen, die sich Barmherzigkeit und Nächstenliebe all sonntäglich aus der Bibel saugen, ist zwar mitunter erschreckend und verstörend, aber letztlich nicht beängstigend, eher lächerlich.
Dass Angst nicht alle Seelen auffrisst, dass Menschen durch den unmittelbaren Kontakt und Umgang mit dem Fremden bis zu einer gewissen Stufe lern- und anpassungsfähig sein können, dass sogar Toleranz praktizierbar ist, wenn Nähe des anderen, unbekannten Wesens zugelassen wird, - auch das zeig dieses Stück. Am markantesten vollzieht diesen Wandel in einer Art emotionaler Wellenbewegung die Putzfrau Emmi Kurowski, die in einer wahrhaftigen und kühl-anrührenden Darstellungsweise von Tamara Korber gespielt wird. Auch wenn deren Liebe mit ihrem Ali Salem letztlich scheitert, woran ihr kleinbürgerliches Umfeld nicht unschuldig ist, zeigt das Stück doch eine Möglichkeit für etwas scheinbar Unmögliches auf. Tamara Korber gibt durch eine zurückhaltende, aber dadurch vielleicht um so mehr berührende Darstellungsweise, dieser toleranten Möglichkeit ein Gesicht.
Mit dem deutschen „Ausländer“ Nenad Žanić ist die Figur des Ali ideal besetzt. Nicht nur, dass Žanić selbst aus Kroatien stammt und er und seine Eltern als Fremde nach Deutschland kamen, sondern auch, dass er die „Sprache seines Vaters“ auf der Annaberger Bühne spricht, also ein gebrochenes Deutsch, das dem ansonsten exzellent deutsch sprechenden Charakterdarsteller nicht immer leicht gefallen sein dürfte, aber von starken Emotionen im Saal begleitet wird, wenn er jenes Sprichwort aus seiner Heimat Emmi erklärt, das dem Stück den Titel gib.Angst-HP2-176 (Andere)

Nenad Žanić berührt nicht nur durch eine differenzierte Spielweise, die eine große Gefühlsskala auslotet, er bedient auch überhaupt nicht das gängige Klischee eines schmutzigen und ungebildeten, arbeitsscheuen Ausländers, obwohl der Sprachduktus und gewisse nonverbale Äußerungen dazu verleiten könnten. Er beherrscht die Szene souverän, markant und berührend, wenn er z.B. ein Volkslied in serbo-kroatischer Sprache singt, in das andere unbefangen einstimmen und zu einem wilden Tanz verleitet werden. An solchen Stellen klimmt Hoffnung auf, dass eben Angst keine Seelen auffressen muss, zumindest die unbegründeten Ängste nicht, wie sie auf der Grundlage von mangelnder Aufklärung, kleingeistiger und provinzieller Borniertheit und kleinbürgerlichen Egoismus geschürt werden und bei Wenigen, nicht bei der Mehrheit, seit Jahrhunderten immer mal wieder auf vorbereitetem Boden fallen.
Und dennoch möchte man angesichts des leider in unserem aufgeklärten Deutschland, in Sachsen - das es ohne immerwährende Einwanderung so gar nicht geben würde - und auch in unserer Stadt punktuell anzutreffenden Fremdenhass und kleinbürgerlicher Feigheit dem Philosophen Theodor W. Adorno Recht geben wenn er meint: „Ich habe keine Angst vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“

Der überaus langanhaltende Beifall zum Premierenabend am Sonntagabend darf als hoffnungsvoller Beweis dafür gewertet werden, dass die aufgeklärte Mehrheit letztendlich, bei allen einzukalkulierenden zeitweiligen Rückschlägen – wie zu allen Zeiten in der langen sächsischen Geschichte – von den Fremden viel mehr Vorteile als Nachteile zu erwarten hat.
Diese Inszenierung kann mit dazu beitragen, Vorurteile zu beseitigen und für Toleranz zu werben, wenn es an die dafür aufgeschlossenen und empfänglichen Menschen, insbesondere an Jugendliche und Schüler, gebracht wird.
So gesehen ist es ein überfälliges und wichtiges Stück zur richtigen Zeit - übrigens mit einem Programmheft (Dramaturgie Silvia Giese), das diesmal einen Sonderapplaus verdient hat!

red.


Nächste Vorstellungen: 6.4./16.4/6.5., jeweils 19.30 Uhr
Fotos: Dirk Rückschloß / Theater