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Wechselbad

Annaberger Theater überraschte mit einer temporeichen Adaption von Wedekinds „Frühlings Erwachen“

Nach den lahmen „Drei von der Tankstelle“, bei deren Beurteilung sich selbst die ansonsten eher beschönigenden lokalen Medien in der vernichtenden Kritik diesmal einig waren, überraschte das Theater nun am vergangenen Sonntag mit der „Kindertragödie“ von Frank Wedekind. In einer temporeichen, manchmal etwas überhasteten, aber sehr anrührenden Interpretation erlebten wir die für unsere Zeit adaptierten Gestalten aus seinem tabubrechenden Drama „Frühlings Erwachen“.

Tamara Korber ließ Schülerinnen und Schüler aus Annaberg und Umgebung eine Story über das Verhältnis von pubertierenden Jugendlichen zu Gewalt, Freundschaft, Sexualität, Mobbing und anderen Wechselbädern der Gefühle erzählen, ohne Lösungen anzubieten. Diese sollen auf Seiten der jungen Leute auf der Bühne (ob als Akteure oder als indirekt Beteiligte) selbst entwickelt werden – während des Spiels oder als Fortsetzung auf facebook unter „frühlings.erwachen.COMPANY.SLAMnextlevel. Für das expressive Spiel (Choreographie Sonja Elstermann) schufen Wolfgang Clausnitzer und Tamara Kober einen intimen Raum, in dem Akteure und Zuschauer auf der Bühne, hinter dem Eisernen Vorhang, Ansätze eines interaktiven Theaters gestalten und erleben konnten. Wer allerdings das Wedekind-Stück kennt, wird es hier nicht mehr erkennen können. Und das scheint Absicht zu sein.

Nur die Vorlage, die Idee, die Inspiration kam vom damals skandalumwitterten Autor. In Annaberg sind einzelne Versatzstücke, wedekindsche Andeutungen, expressive Dialogstrukturen, surrealistische Darstellungsformen dann auch jene Mittel, um die Aktualität des Stoffes am Leben zu erhalten. Von daher hätte man sich gewünscht, dass noch mehr Unmittelbarkeit aus den existenzbedrohenden Umständen auch für Jugendliche wie Gewalt, Kriege, Arbeitslosigkeit, Diktatur des Geldes stärker herausgearbeitet würden. Die Darsteller hätten auch das noch gekonnt bewältigt. Auch die Problematik des Suizid unter Jugendlichen – insbesondere Mädchen – könnte noch einleuchtender behandelt werden, zumal sie bei Wedekind (dort auf Knaben bezogen) angelegt ist.

Da man die Protagonisten im Programmheft keinen Stücke-Figuren zugeordnet hat, sollen wenigsten ihre Namen hier gleichermaßen lobend erwähnt werden: Adela Asavei, Julia Birke, Mercedes Dolny, Chaline-Theres Hecker, Linda Mejias, Michelle Stohr, Hermann Müller, Samuel Schaarschmidt und Peter Uhlmann. Ein besonderes Lob noch an die Pianistin, die auf einem etwas ungestimmten Klavier den Szenen dennoch eine sehr anrührende Stimmung verlieh. Im Programmheft (Redaktion, Gestaltung und Satz von Dramaturgin Silvia Giese) erfährt man dann u.a.: „Das Stück ist von eigenen Erlebnissen des Autors und seiner Mitschüler inspiriert. Als Vorbild für Moritz Stiefel dienten ihm etwa zwei Mitschüler, Frank Oberlin und Moritz Dürr, die 1883 bzw. 1885 Suizid begangen hatten. Dürr hatte dem Schriftsteller von seinem Vorhaben zu sterben berichtet, woraufhin Wedekind ihm versprach, ein Drama über ihn zu schreiben.“ Diese Sätze findet man dann zu 98% wörtlich wieder in der Wikepedia unter http://de.wikipedia.org/wiki/Fr%C3%BChlings_Erwachen, einem Zitat das von Georg Hensel im Nachwort zu „Frühlings Erwachen“, Stuttgart 2000, Reclam, S. 102 ff. stammt. Im Annaberger Programmheft wird das ohne Hinweis auf ein Zitat als eigene Erkenntnis ausgegeben. Das Stück, das von Frau Giese dramaturgisch betreut wurde, handelt in erster Linie von Moral und Ethik unter Jugendlichen, die aber noch immer auf die Vorbildwirkung der Erwachsenen bauen...

offen wir, dass dieses anrührende und nachdenklich machende Stück-Werk von vielen Schülern, Schülerinnen, Pädagogen und Eltern gesehen wird und dass es zum Mitmachen auf der Bühne und im Leben anregen möge. Und wenn der Intendant das verunglückte Tankstellen-Unlustspiel endlich vom Spielplan genommen haben wird, dann sollte noch mehr Platz sein für dieses gescheite „Frühlings Erwachen“ im nahenden Winter...

Gotthard B. Schicker

 

 

 

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