LESERPOST
ÜBER UNS
IMPRESSUM
WERBEN

Gegründet 1807

www.annaberger.info

Wiedergegründet 2011

 

    POLITIK   WIRTSCHAFT   KULTUR   LOKALES   HISTORISCHES   STADTFÜHRER    WEIHNACHTEN im Erzgebirge

THEATER ABC

 

 



Ein Jubiläum und eine Entdeckung in St. Annen

Zum 100. Kantorei-Jubiläum, mit viel Musik und Freude am gemeinsamen Gesang, wird auch an die verschwundenen Ausmahlungen durch den expressionistischen Künstler Ernst Müller-Gräfe in der ehemaligen Kriegerkapelle in der St. Annen-Kirche erinnert.

Irgendwann in der letzten kalten Jahreszeit hatte der Kantor von St. Annen, KMD Matthias Süß, wieder einmal in den Archiven nachgelesen, was früher so aufgeführt wurde, was mal wieder gesungen werden könnte. Da geriet ihm u.a. das Programm der Uraufführung einer Evangelien-Motette durch „seine“ Kantorei in die Hände, die gleichzeitig besagte, dass 1938 das 25. Jubiläum der Kantorei von St. Annen begangen worden war. Also wurde im Jahre 1913 dieselbe gegründet und hat nun schon 100 Jahre zu Festtagsgottesdiensten, zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Ostern, Pfingsten und hierzulande reichlich im Advent und Weihnachten, Neujahr - oft auch mit dem Kammerorchester, der Kurende und dem nicht zu überhörenden Posaunenchor – ihre Stimmen erklingen lassen. Besondere Feste im Stadtraum gehörten natürlich auch dazu, wie zuletzt bei der Féte de la musique.
Kantorei St. Annen 2013

Die Musik in unserer einmalig schönen gotischen Hallenkirche erklang natürlich nicht erst vor hundert Jahren. Ganz am Anfang, bis 1539, waren es sicher Kapellknaben der nebenan befindlichen Lateinschule, die sich mit gregorianischen Gesängen liturgisch Gehör verschafften. Mit der Einführung der Reformation nach 1539 in Annaberg (Buchholz war im ernestinischen Sachsen bereits seit 1524 evangelisch!) waren bereits Lieder von Paul Gerhardt sowie Musik und Gesänge von Heinrich Schütz bekannt, die schnell in den Gemeindegesang Einzug hielten. Die liturgische Begleitung durch Kurendesänger ist lange verbürgt, was sich in vielen geschnitzten Figuren, aber auch in der Legende von den beiden bemantelten Sängerkindern widerspiegelt, die vom Kirchturm gesprungen sein sollen.
Die musikalische Geschichte unserer Stadt ist reich, und Chöre gehörten stets zu den mit am tiefsten im Volke verwurzelten Traditionen. Höhepunkte im Kantorei-Schaffen sind immer auch die Werke der größten Komponisten aus Sachsen und des deutschsprachigen Raums gewesen, so Schütz,
Schein und Scheidt, und immer wieder Johann Sebastian Bach, dessen Magnificat Weihnachten 2012 erklang und sein Weihnachtsoratorium wiederholt 2013 aufgeführt wird. An die Kantorei und den Jugendchor stellen solche Werke hohe Ansprüche.

Das 100. Kantorei-Jubiläum wird an drei Tagen begangen: 27.-29.September 2013:

- Am 27. verwöhnen um 19 Uhr verschiedene kirchliche Dienstgruppen mit Darbietungen und Überraschungen für die die Sänger;
- Am Samstag, 28.9., 17 Uhr singen und spielen Kirchenmusikdirektoren der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Christfried Brödel) bei uns und erinnern an die vielen ihrer Kollegen, die sich um die Qualität der Kirchenmusik verdient gemacht haben
- Am Sonntag, dem 29.9. ist ganztags die Kantorei anspruchsvoll gefordert. Im Festgottesdienst, 9 Uhr wird jene, 1938 uraufgeführte Evangelienmotette „Jesus und Nikodemus“ von Ernst Pepping erklingen, die noch heute - nach 75 Jahren - modern und ungewohnt empfunden werden wird.  In Lesung und Predigt wird das Thema aufgegriffen werden. Am Nachmittag folgt die Generalprobe mit der Erzgebirgsphilharmonie und Solisten, 17 Uhr erklingt dann Händels „Messias“ als Höhepunkt des Festwochenendes. Große Freude und auch Lampenfieber sind dabei.
Geprobt wird bis kurz vor dem Auftritt, unter anderem auch in der alten Sakristei.

Ernst Müller-Gräfe - der Maler der Kriegsgedächtniskapelle in St. Annen

Dort steht seit kurzem eine Tafel mit Fotos und Erklärungen zum einstigen Kriegergedächtnis in der St. Annen-Kirche. Die Entdeckung: Ein expressionistisches Kunstwerk, das Opfer des Krieges wurde. Eine Entdeckung deshalb, weil nur noch wenige, sehr alte Menschen diesen Ort moderner Kunst kennen werden. Der erste Weltkrieg hatte auch in Annaberg und Frohnau empfindlich Menschenopfer gefordert. 697 Tote waren zu beklagen, und diese Klage sucht ihren Platz auch über die vielen individuellen und städtischen Grabmarken hinaus. Vertreter der Kirche und der Stadt fanden diesen würdigen Ort in der alten Sakristei (die alte Brautkapelle) von St. Annen. Dort wurde am Gründonnerstag 1925 die Kriegergedächtniskapelle geweiht. Müller-Gräfe 2
Der Maler Ernst Müller-Gräfe aus Altenburg schuf mit seinen expressionistischen Figuren auf Leinwandrahmen, unter denen auf einen Sockel die Namen der Gefallenen geschrieben standen. Er fand damit einem dem Schrecken des ersten Weltkrieges angemessene moderne und ausdrucksstarke künstlerische Gestaltform. Ein aufgeschlossenes und zahlungskräftiges Bürgertum, finanzielle Mittel Sachsens und Spenden von Gläubigen machten das möglich. Doch nach nur zwölf Jahren der Nutzung wurde die Leinwände mit ihren schwarz-weißen und grau-grünen Ölbildern bereits wieder demontiert. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ im Münchner Hofgarten, die Adolf Hitler eröffnet hatte, „bewirkte auch in Annaberg die Neubewertung öffentlicher Kunst. Bereitwillig und ohne äußeren Anstoß (wie bei Ernst Barlachs Magdeburger Ehrenmahl) setzten in vorauseilendem Gehorsam Bemühungen ein, die Kriegergedächtniskapelle als ein Kunstwerk der  `Verfallszeit` einzustufen“
(U.Heber/S. Jahn: Die Kriegergedächtniskapelle in St. Annen zu Annaberg. Streifzüge durch die Geschichte des oberen Erzgebirges, Heft 79, 2011).Ernst Müller-Gräfe

Der übergroße Bergmannsdom St. Annen in Annaberg, wie unsere spätgotische Hallenkirche stolz genannt wird, ist wie selten ein Baudenkmal einheitlich im spätgotischen Außenbau ebenso wie in seinem Interieur, das durch spätgotische Altäre und einmalige Zeugnisse der Frührenaissance wie der Hauptaltar, der Veit-Stoß-Schule zugerechnete Bäckeralter sowie insbesondere der weltberühmte Bergalter mit den Darstellungen bergmännischer Arbeit zeigen. In großer Fülle wurden Anfang des 16. Jahrhunderts damals hochaktuelle, oft provokative Darstellungen des Menschen und der biblischen Geschichte akzeptiert, z.B. die figürliche Gleichrangigkeit von Heiligen und Menschen, die Nacktheit Adams oder die Darstellung Gottes (trotz:„Du sollst Dir kein Bildnis machen!“), haben Künstler ihr Weltbild gestaltet und so der Reformation Vorschub geleistet.
Die biblischen Inhalte, die Ernst Müller-Gräfe für die Kapelle wählte, wie Kreuzigung, Trauernde Mütter, Auferstehung, Lazarett, Tröstender Engel sind eher Glaubens konform. Ihre expressionistische Form, zusammen mit den Gefühlen der Familien der Gefallenen hingegen aufwühlend und gegen den Krieg sprechend. Man kann Müller-Gräfes Darstellungen als Aufschrei, ja als Protest der gequälten Kreatur verstehen und so wurden sie sicher auch gesehen. Durch die relative Abgeschiedenheit des Ehrenmals in der Sakristei wurde die Raumwirkung der Gesamtkirche nicht beeinträchtigt.
Nach der Demontage wurden die Leinwände zur Restaurierung nach Dresden verbracht und sollten dort bis zum Ende des  Krieges verbleiben. Vielleicht, um dann wieder in die Kapelle zurück zu kommen? Würde doch dann ein Ort der Trauer nach der unvorstellbaren zweiten Weltkriegskatastrophe noch mehr und wieder neu gebraucht werden.
Außerordentlich schwer taten sich Kirchen- und Stadtväter mit der Gestaltung der nun leeren alten Sakristei. Es sollte mit dem Kruzifix aus dem Franziskanerkloster, zwei Steintafeln mit Inschriften, einem Steinsockel für Kerzen und einem Gedenkbuch mit den Namen der Gefallenen sowie zwei knienden Engeln und stehenden Bergmannsleuchtern von Paul Schneider und mit Sitzbänken aus der Kirche ausgestattet werden. Termin: 12. März 1939, dem NS- Heldengedenktag (früher Volkstrauertag). Geldschwierigkeiten im beginnenden Krieg verhinderten die Ausstattung, so dass die Trauernden ihre Kränze in der leeren Kapelle anbrachten, die bald davon barst.Ernst Müller-Gräfe 3
Die auf Rahmen gezogenen Leinwände Müller-Gräfes gingen im Dresdner Schloss in der Bombennacht im Februar 1945 mit unter. Es existieren davon nur noch schwarz-weiß Fotos,
die die ungeheure, auch in der Kunstwelt beachtete Wirkung erahnen lassen.
Der Maler Ernst Müller-Gräfe (Foto: Beim Bemalen der alten Gedächtniskapelle) hat - wie viele Menschen dieser Generation - eine heterogene Biographie: Am 20.7.1879 wurde er in Nobitz bei Altenburg geboren. Einer Lehre als Dekorationsmaler folgten Malkurse u.a. im Kunstgewerbe-verein. 1897 Besuch der Kunstgewerbeschule Dresden, ab 1899 Studium an der Königlich Sächsischen Akademie der bildenden Künste mit Unterbrechungen von 1906 (Formen des Jugendstils auf den Annaberger Bildern unverkennbar) bis 1913. Aufträge folgten, so Bemalungen im Amtszimmer des Chemnitzer Oberbürgermeisters, im Lindenau-Museums Altenburg, wofür er den zweijährigen Reisepreis der Dresdner Akademie (7.000 RM) erhielt. Er wurde Mitglied im Künstlerbund, es folgten zahlreiche Ausstellungen u. a. in Bremen und Leipzig, Berlin und Chemnitz. Sein Malstil folgt den Kunstetappen: Jugendstil, Impressionismus und Expressionismus.
Ernst Müller-Gräfe 4 Porträt

In der NS-Zeit diente er sich dem damal vorherrschenden künstlich „völkischen” Maldiktat dezent an. Wunderbare realistische Portraits stammen von ihm. Die Hamburger Kunsthalle kaufte grafische Blätter. Zugeständnisse an den Geschmack der Zeit verschafften ihm Aufträge, so zur Neugestaltung des Thüringer Landeswappens. 1935 wurde er in das Brockhaus-Lexikon aufgenommen. Wikipedia hat das noch nicht erreicht. Entnazifizierung wegen NSDAP-Mitgliedschaft und Wiederzulassung 1948 als Maler folgten. Aufträge, Professorentitel und eine Sonderrente anerkannten den Künstler in den frühen DDR-Zeiten.  Ernst Müller-Gräfes Todestag jährt sich am 14. Februar 2014 zum 60. Mal.
Dann könnte diese derzeit dort aufgestellte Überraschung auslösende Erinnerungs-Tafel mit den Fotos von der ehemaligen Krieger-Gedächtniskapelle durchaus noch informativer ausfallen, zumal man an anderen Orten der Stadt über diese Entdeckung nichts erfahren kann...

Eveline Figura

Quelle für Text und Fotos: Ulrike Heber/Siegfreid Jahn: Die Kriegergedächtniskapelle in St. Annen zu Annaberg. - Streifzüge durch die Geschichte des oberen Erzgebirges, Heft 79, 2011


Kommunal-Wahlumfrage - hier