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Die Russen kommen! – aber nicht bis ins Erzgebirge

Ein gutbetuchter Wirtschaftsfaktor steht vor der Haustür. Warum rollt der Rubel nicht auch in Annaberg-Buchholz?

Seit Zar Peter I. nur eine Nacht in Annaberg verbrachte, kümmert man sich hierzulande, im deutschen Teil des Erzgebirges, nicht mehr um die russische Zielgruppe für den Tourismus. In Dresden gehen die Russen in heiteren Scharen ein und aus, um neben der Besichtigung der Kunstschätze – viele Russen sind sehr kulturinteressiert – den Rubel als umgetauschte Euros in die dortigen Geschäfte rollen zu lassen. Im tschechischen Karlsbad hat man die Zeichen der Zeit schon längst erkannt und baut dort sogar den Flughafen aus, um noch bessere Bedingungen für die gutbetuchten Gäste zu schaffen. Bei einem klugen Marketing-Konzept könnte davon auch unser Erzgebirge und insbesondere seine Hauptstadt Annaberg-Buchholz profitieren.

4. Jan. 2012. Dass man in Karlovy Vary (Karlsbad) an den Geschäften kyrillische Buchstaben findet, die Speisenkarten in den Lokalen auch in russischer Sprache lesen kann und beim Betreten der zahlreich vorhandenen Juwelierläden gleich auf Russisch begrüßt wird, hängt mit der Einstellung der Bewohner dieser Kurstadt zu ihren internationalen Gästen zusammen, unter denen die Russen neuerdings dominieren. Aber was heißt neuerdings? Seit Zar Peter I. im Jahre 1699 hier kurte, zog es immer mehr Landsleute aus dem Reich des Großen Peter in die deutsch-tschechische Stadt am Fuße des Erzgebirges. Auch auf seinen Kurreisen in den Jahren 1711 und 1712 befanden sich im Tross des Zaren Gutbetuchte, die sich in den Jahren danach immer mal wieder einen Aufenthalt in Karlsbad leisteten. Einige blieben sogar für immer hier, erlernten Handwerke, gründeten Familien, pflegten ihre orthodoxe Religion und schufen so eine Art russische Enklave außerhalb des Großreichs, - etwa vergleichbar mit der russischen Kolonie in Potsdam.

Bei einer seiner Reisen in die Kurstadt machte der Zar auch für einen Tag und eine Nacht Station in Annaberg. Warum er nicht länger hier geblieben ist, kann eventuell mit der damals ausbrechenden „Annaberger Krankheit“ (1712-1720) erklärt werden. Jenen somnambulischen Anfällen, von denen etliche Bürger der Stadt auf Grund der sozialen Situation betroffen waren und mit ihren Zuckungen, krampfartigen Anfällen auf offener Straße, merkwürdigem Gebaren sowie den Verfolgungen und Prozessen durch Polizei und Justiz, kein angenehmes Stadtbild vermittelt haben dürften. Kann aber auch sein, dass sein Zeitplan einfach keinen längeren Aufenthalt vorsah.

Zar begeistert von Klöpplerinnen

Der Zar aller Reußen ist also am 17. Oktober (andere Quellen nennen den 18.10.) 1712 am späten Nachmittag in der alten Bergstadt eingetroffen und hat Quartier im Haus des Bürgermeisters Johann Christoph Schwabe (16.1.1669 - 07.05.1745) in der Großen Kirchgasse – heute Nr. 4 - genommen. Sein Tross ist vermutlich im Gasthaus „Wilder Mann“ abgestiegen. Tags darauf speiste er zu Mittag mit dem Herrn Bürgermeister, führte Gespräche über den Bergbau, besuchte den Frohnauer Hammer und geriet in Begeisterung als er Klöpplerinnen zu Gesicht bekam, die an ihren Klöppelsäcken mit über hundert Klöppeln hantierten. Er soll sogar den Versuch unternommen haben, ein paar der jungen Frauen in seine Heimat abzuwerben. Was ihm auch offensichtlich gelang, denn wenige Monate später konnte man in den Geschäften auf den Petersburger Hauptstraßen Klöppelspitzen kaufen.

Der an deutschem und niederländischem Handwerk und Gewerbe hoch interessierte Zar (Albert Lortzing setzte ihm mit seiner Oper „Zar und Zimmermann“ ein Denkmal) weilte damals aber nur dieses eine Mal in Annaberg, und die heutigen Russen kommen gar nicht erst hier her, weil sie gleich von ihren Flughäfen aus den kleinen Airport in Karlsbad oder den größeren in Prag anfliegen. Dabei war ihr großer Vorfahre sehr angetan von der Stadt Annaberg und auch von anderen Erlebnissen, die er bei seinen Reisen durch den deutschen Teil des Erzgebirges hatte. In Zschopau interessierte er sich z.B. für die Technik des Strumpfwirkens, während seine hier verunglückte Kutsche repariert wurde.

Richtungsdenken verändern

Könnte es nicht sein, dass es heutigen Karlsbad-Besuchern aus Russland nicht eben so ergehen könnte, wie einst ihrem Zaren? Sollte man nicht ihr Interesse verstärkt auch auf seine Spuren in unserem Teil des Erzgebirges und in die nur paar Kilometer davon entfernte Hauptstadt Annaberg-Buchholz und lelenken? Wie langweilig ist es den russischen Kurgästen mitunter nach wiederholten Besuchen in Karlsbad. Wie gerne reisen sie dann nach Prag oder Komotau, um dort ihr Geld unter die Tschechen zu bringen. Aber wie aktiv und präsent sind auch die kleineren tschechischen Städte in der Umgebung von Kralsbad mit entsprechenden Angeboten und Verlockungen, um von der Vergnügungs- und Kauflust der meist reichen Russen ebenfalls zu profitieren.

Dagegen ist auf der langen Kurpromenade in Karlsbad oder am dortigen noch auszubauenden Airport – wo demnächst monatlich Tausende Russen ankommen werden - nicht ein Hinweis (wohlgemerkt in russischer Sprache!) auf die schöne Stadt Annaberg-Buchholz oder das besuchenswerte Erzgebirge zu entdecken. Und ob das Erzgebirge in Moskau oder St. Petersburg in der touristischen Vermarktung eine Rolle spielt, darf bezweifelt werden. Es ist aber eine alte PR-Weisheit, dass man die potentiellen Kunden, Gäste, Touristen dort abholen muss, wo sie immer oder zeitweilig leben: also in Russland oder eben in Karlsbad, - und das nicht nur zur Weihnachtszeit!

Dass unser Erzgebirge zum Empfang solcher finanziell potenter Gäste auch ein paar Voraussetzungen schaffen muss, liegt auf der Hand. Es genügt dabei nicht, Absichtserklärungen zur Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Tourismusbüros und Reise-Agenturen zu vereinbaren. Selbstverständlich geht ohne das Zusammenwirken mit der tschechischen Seite – schon aus Konkurrenzgründen – gar nichts. Aber angefangen bei der Stadtverwaltung bis hin zum einzelnen Gastwirt muss ein Richtungsdenken auf eine neue Zielgruppe vor Ort einsetzen. Dazu gehört, dass die regionalen und örtlichen Leitsysteme auch in der Sprache der Gäste zu den großen und kleinen Attraktionen hinführen. Derzeit sind sie oftmals noch nicht einmal in der deutschen Sprache dazu in der Lage, ja, selbst die Sprache des unmittelbaren Nachbarn (vom Englischen ganz zu schweigen!) wird in dieser Stadt konsequent ignoriert, wie man u. a. in Annaberg-Buchholz immer wieder neu kritisieren kann.

Den Speisenkarten in den erzgebirgischen Gaststätten sieht man noch immer an, dass man entweder davon ausgeht, alle Welt spreche Deutsch (oder die hiesige Mundart), oder erst gar nicht damit rechnet, dass sich mal ein Russe hier her verlaufen könnte. Kurz: Provinzionalität sollte durch Internationalität ergänzt – nicht ersetzt – werden, schließlich soll ja das Typische erhalten bleiben, aber eben verständlicher auch für Ausländer daher kommen. Diese noch vorhandenen Formen von Gastunfreundlichkeit setzt sich auch in dem unmöglichen Parksystem – hauptsächlich in Annaberg – fort. Mit dem dort anzutreffenden Verteilen von Knöllchen z.B. wegen „unerlaubten“ Parkens an Stellen, wo niemand behindert wird, ist nicht nur gegen die eigene Bevölkerung und die Kaufleute an der Strecke gerichtet, sondern letztendlich auch dem Tourismus feindlich. Und selbstverständlich muss das Hereinholen von Russen, oder anderen Ausländern in unser Erzgebirge, frei von Aversionen geschehen. Ein Fremden – insbesondere Ausländern gegenüber unfreundliches Verhalten führt letztlich nur zum eigenen Schaden.

Was nützen Vorbehalte, die von unseren Vorfahren oder noch aus eigenem negativen Erleben aus der Vergangenheit mitgeschleppt werden bei der Annäherung an unsere heutigen Gäste, Kunden oder Investoren – auch aus Russland? Das tschechische Nachbarland scheint da weiter zu sein. Dort hat man die noch vorhandenen Russischlehrer ausfindig gemacht und sie mit in die Tourismusbranche als Dolmetscher oder Übersetzer einbezogen oder für Sprachlehrgänge gewonnen und als Stadtführer eingesetzt. So weit ist das deutsche Erzgebirge noch nicht. Aber es wird diesbezüglich nicht um eine neue touristische Sicht und ein aktives Handeln herum kommen. Es wird sich langfristig auf diese neue, finanziell potente und auch kulturell bereichernde Zielgruppe einstellen müssen. Denn die Zukunft des Erzgebirges liegt vorrangig auf dem Gebiet des Tourismus, ohne dabei die Region als Industriestandort unterbelichten zu wollen.

Russen und Erzgebirger an einen Tisch

Ein Anfang wäre z.B. gemacht, wenn das Stadtoberhaupt von Annaberg-Buchholz jedes Jahr um den 18. Oktober den Generalkonsul Russlands mit seinem Tross ins Rathaus einladen würde, um im Andenken an den Besuch von Zar Peter I. im Jahre 1712 bei einem Mittagessen über mögliche Formen auch der touristischen Zusammenarbeit zwischen Stadt und Landkreis auf der einen Seite und russischen Vereinen, Organisationen, Verbänden und Privatunternehmern auf der anderen in ein für unsere Gegend nützliches Gespräch zu kommen. Davon könnte dann die gesamte Gegend, die Städte, die Händler, Kaufleute (nicht nur die Juweliere), Gastwirte und Hoteliers, im Tourismusgewerbe Beschäftigte, also ein Großteil der Bevölkerung des Erzgebirges profitieren. So könnte der alte, negative Slogan „Die Russen kommen!“ vielleicht endlich auch bei uns eine andere, neue, auch positive Bedeutung erhalten. Endlich!

Übrigens: Man sollte nicht darauf warten, bis der rote „Kaiser von China“ mal das Erzgebirge mit seinem Besuch beehrt, oder Japans Tenno auf seinem Weg zur Kur nach Karlsbad auch mal Annaberg streift, um erst dann in den hiesigen Marketing- und Tourismusbüros auf die Idee zu kommen, dass ja auch der asiatische Raum ein so genanntes Zielgruppen-Potential beinhaltet, was es für unsere Region zu mobilisieren gilt. Diese Völker mögen alte, deutsche Städte – und auch wir haben eine Menge davon. Annaberg-Buchholz ist zum Beispiel so eine weltweit noch unentdeckte, sehr schöne Touristenattraktion mit vielen Reserven hinsichtlich ihrer auch internationalen Vermarktung.

Gotthard B. Schicker

 

 

 

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