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Oktober 2022



Der Markt von Annaberg

Wo das Volk Akteur und Zuschauer ist - Annabergs Marktplatz als Bühne einer Stadt gestern und heute

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Bergparade am Annaberger Markt 2017. Foto: Stadt Annaberg-Buchholz.

In der Gündungzeit der Stadt Annaberg im 15. Jahrhundert, als fast alle gläubig waren, galt die riesige St. Annenkirche und die am Annaberger Markt stehende Bergkirche als Mitte, wo mit Rathaus und Markt auch das weltliche Leben blühte. Stadtrat im Rathaus, Wochenmarkt, später Aufmärsche der Bergleute, Huldigungen für den Herzog und Stadtgründer, August des Bärtigen. In Buchholz´ Mitte, die St. Katharinenkirche, damals bereits in den 1520er Jahren Zentrum der „Opposition“, weil gehörig dem sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen. Der war Schutzinstanz für Luthers Reformation, die hier schon zelebriert werden durfte. Heimlich schlichen sich Annaberger (Die Reformation wurde hier erst 1539 für ganz Sachsen eingeführt) wie Adam Ries dorthin zum Gottesdienst und wurden glatt bei der Annaberger Obrigkeit denunziert. Wer ökonomisch unabhängig war, konnte sich das eher leisten als Angestellte und Untergebene.

Die Menschen waren in der Überzahl fremdbestimmt. Das Sagen in der Kirche hatten Priester, Pastoren. Im geschlossenemn Raum hatte der Pfarrer zu predigen, diskutiert wurde darüber nicht, höchstens zu Hause. Erst als das Volk mit Luthers Bibelübersetzung verstehen konnte, was in der Bibel stand, wurde auch der öffentliche Raum genutzt. Luther schlug seine gefährlichen Thesen  a u ß e n  an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. In Annaberg kündet die seltene Außenkanzel an der Trinitatiskirche von Pilger- und Volksversammlungen, wo auch gleich die spätere Kät, als Markt und  Volksfest abgehalten wurde. Schon 1525/26 hatte das Volkswissen, dass ´vor Gott alle gleich seien´, Bauernaufstände zur Folge, die auf keinem Markt, sondern auf dem Feld ausgetragen wurden.

Danach fand wieder die Diskussionen hinter verschlossenen Türen statt, das Volk war mundtod oder im Gefängnis.

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Später zelebrierte jedes System seine Statements und Organisationen, wo? Natürlich auf dem Markt ! Aufmarsch der Schützengilden als Ausdruck bürgerlicher Landesverteidigung, die nationalistischen Hurra-Aufmärsche zur Mobilmachung 1914, Hitlers Machtübernahme und  sein Besuch mit massenpsychiotischen Auswüchsen und Demütigungen der wenigen Juden der Stadt,
Trauermarsch anlässlich Stalins Tod mit schwarzen Fahnen durch die Straßen zum Markt- 1953. Sozialistische Mai-Demonstrationen hatten danach schon fast wieder Volksfestcharakter, wo man sich auch drücken konnte. Dann kam mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika Bewegung ins Volk. Eigentlich stellten die Kirchen, die immer weniger Gläubige fassten, nur den geschützten Raum für das verbotene Treffen politisch Andersdenkender. „Schwerter zu Pflugscharen“ war biblisch konodiert, aber längst gegen Rüstung in West und Ost gemeint, - Diktatur gefährdent.

Der Annaberger Markt einst und jetzt: Aus “
Annaberg, die Liebste. Straßen und Geschichten” - Stadtführer von Gotthard B. Schicker.

Als das immer mehr Volk unterstützte, ging man selbstbewusst auf die Straße zu zentralen Plätzen, Märkten. In Berlin zum Alexanderplatz.

Die Proteste gegen die SED-Herrschaft fanden auch in Annaberg auf dem Markt statt wie die Präsentationen des Neuen Forums und der neuen Wahlsieger mit ihren „blühenden Landschaften“. Wer danach nicht in den Westen den Arbeitsplätzen hinterher lief (Annaberg-Buchholz verlor immerhin ca. 10.000 Einwohner),  der bevölkerte gelegentlich den Markt  für Commerz-Veranstaltungen der Spaßgesellschaft; Autopräsentationen, Fete de la musique, Modenacht oder -wie positiv- einer tollen GALA des Märchenfilmfestivals „fabulix“. Der traditionelle Weihnachtsmarkt, einer der schönsten in Deutschland, litt  zwei Jahre mit den Bürgern am meisten unter der Pandemie, fand nicht statt. Das ging ans Herz.

Als die Volksseele am meisten litt und auch noch Kriegsflüchtlinge Asyl suchten,
zeigten sich PEGIDA und Impfgegner als schreiende Volksversteher auf dem Markt.

Denn in der parlamentarischen Demokratie  ist Straße und der Markt freigegeben auch für  neue Schreihälse und Wichtigtuer:  „Kommando Stülpner“ nannte sich eine Gruppierung. Soviel historisches Falschdenken, Nichtwissen war neu, Verschwörungstheorien  wurden in die Welt geschrien, Montagabend, als außer den 30 bis 60 Untenwegten andere im Chor probten. Der bewegte Markt? Könnten wir doch froh sein, denn in Kleinstädten sind auf den Märkte ab 19 Uhr -spätestens- die Trottoires hochgeklappt. Dennoch ist es nicht egal, was da auf dem Markt gerufen wird. Leute, die sich in keine demokratische Foren, Gewerkschaft, Partei oder Parlamente einbringen, macht ja Arbeit, nur zerstören wollen. Dieselben reden ohne Sinn und Verstand, ohne Kenntnisse von Wissenschaft oder Geschichte wirres Zeug und alle die, die vielleicht zu Recht von der Politik im Stich gelassen wurden nach der Wende, laufen ungeprüft rechten Rattenfängern hinterher.

Nicht am Montag, aber hörbar kompetent kam der Mittelstand auf dem Markt zu Wort.

Da lob ich mir eine andere Art von Opposition, die sich am 27.9.2022 auf dem Markt nachmittags positionierte. Bewusst nicht am Montagabend, sondern am Dienstag, zwischen den Marktbuden, trafen sich mehr als 90 potente Vertreter des erzgebirgischen Mittelstands, um auf ihre wirtschaftliche Situation in Zeiten von Ukrainekrieg, Russlandsanktionen und Energiekrise auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Nach Wendekahlschlag der DDR-Wirtschaft durch Treuhand und D-Mark-Überrumpelung hatten sich viele Handwerker, Industrielle, Baufirmen, Gastronomen und Neu-Fabrikbesitzer, die ihr in der DDR enteignete Firmen entkernt zurückhielten und mit enormen finanziellem Risiko wieder aufgebaut hatten, sahen sich in einer neuen Gefahr.

Die Berliner Ampel-Regierung, insbesondere die durch die FDP dominierte Finanzwirtschaft reden zwar von der Bedeutung des Mittelstandes, kümmern sich aber umso lieber um die global vernetzte Großindustrie und Banksysteme. Der Mittelstand, endlich im Erzgebirge hinter jedem Berg und Tal nach dreißig Jahre sichtbar, flexibel und als Arbeitgeber geschätzt, schwinden die Felle wie auch ihren Arbeitnehmern, Rentnern. Schwer Errungenes gilt es zu erhalten und mit bezahlbarer Energie zu unterstützen. Die Unternehmer artikulierten sich und grenzten sich von AfD-Schreihälsen durch Argumente ab. Wissen sie doch um  deren Prioritäten, die nichts mit Sozialpolitik und Wirtschaftsförderung gemein haben, sondern mit Zerstörung von Demokratie und sozialem Frieden.

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Mal futtern, mal protestieren. Manchmal beides zusammen. Markt in Annaberg. Foto: Schicker

Der Mittelstand ist eine Form kapitalistischer Selbstbestimmung, zu der im Prinzip jeder durch kreative Konzeption und finanziellem Risiko erfolgreich auf den Markt gelangen kann, in Krisen zusammen mit den Arbeitnehmern, aber mehr als die Profit-Großindustrie gefährdet bleibt, jedoch durch schnellere Produktionsanpassung  flexibel agiert. In Deutschland ist der Mittelstand der stabile Unterbau der Gesellschaft. Eine ökonomische  Ursache für das Scheitern der sozialistischen Idee in der DDR war u.a., dass spätestens 1972 dieser Mittelstand zerschlagen worden ist.

Der Marktplatz als Zentrum der demokratischen Auseinandersetzung ist genau der richtige Ort, dass die Bürger auch vom Staat und Stadtrat wahrgenommen werden. Und der darf auch bei kulturellen Commerzveranstaltungen ein Wort mehr mitreden, damit das Niveau von Musik und Spaß aufgeht. Der Markt gehört allen, aber am wenigsten gewaltbereiten, selbsternannten Dummlingen aller coleur. Oder muss die Mehrheit des Volkes solche Begleiterscheinungen der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechts einfach ertragen, auch wenn dabei das Image von Kulturmetropolen wie Dresden und auch Annaberg beschädigt wird? So isses wohl!

Eveline Figura