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Zur „Todsünde“ des Anton Günther

Am 29. April 2017 jährt sich zum 80. Mal der Tag, an dem der bekannteste Liedermacher des Erzgebirges, der Tolerhanstonl aus Gottesgab/Boží Dar, Suizid beging. Noch immer gibt sein Freitod Rätsel auf. Waren es Depressionen, familiäre Probleme, die politisch-sozialen Verhältnisse oder eher andere, psychisch belastende Situationen – möglicherweise auch alles zusammen -, die den gefeierten katholischen Volks-Sänger des Erzgebirges dazu getrieben haben, sein Leben mit einer “Todsünde” zu beenden?
Mit diesem Beitrag soll ein weiterer Aspekt in die Diskussion um den Tod Anton Günthers eingebracht werden.
AW - Anton Günther 1

Anlässlich des 125. Geburtstages von Anton Günther am 5. Juni 2001 brachte der Verlag Rockstroh in Aue eine dünne Broschüre heraus, die unter dem Lied-Titel „Bild dir nischt ei!“ eine „Studie zu Glauben und Gottesfurcht Anton Günthers“ enthält.
Der Autor dieser bebilderten 26 Seiten ist der Pastor i.R. der methodistischen Kirche Friedmar Walther. Er wurde 1929 in Bernsbach bei Aue geboren, war viele Jahre stellvertretender Vorsitzender der evangelischen Allianz der DDR, leitet von 1968 bis 1982 die Friedenskirchgemeinde in Karl-Marx-Stadt und war ab 1983 Superintendent im vogtländischen Netzschkau. Aufgefallen ist Walther auch durch seine Mundartgottesdienste, wie er einen am 21. September 2003 in der Kirche von Bernsbach hielt. Und dass er im Buch „Die letzten Jahre der DDR“ (2002, Autor Dr. Edmund Käbisch) als IMB „Waldemar“ genannt wird, hat mit der von ihm beschriebenen Gottesfurcht eines Anton Günther auch nur wenig zu tun.
Zunächst ist es ein Verdienst des Autors, sich durch das lyrische Werk des Gottesgaber hindurchgearbeitet zu haben, um zu dem Schluss zu kommen, dass der wohl bekannteste Liedermacher des Erzgebirges „ein frommer Mann gewesen sein muss“. Nun stellt der anschmiegsame Protestant aber bereits auf der ersten Seite seiner Sammlung fest, dass der Tolerhanstonl „ja aus Böhmen stammt“ und somit der Sänger des Erzgebirges zur katholischen Kirche gehörte. Nur ein paar Meter weiter, hinter der Grenze auf sächsischer Seite lag das Stammland der Reformation. Hier gab es zwar keine Sprachgrenze, dafür aber eine Glaubensgrenze.

Unbestritten hatte Anton Günther den Glauben seiner Vorfahren ererbt und auch in der katholischen Kirche praktiziert. Mit welcher Intensität, sei zunächst dahin gestellt.
Es ist auch richtig, dass in einigen seiner Lieder die Natur als Gottesschöpfung besungen, aber auch „E Mensch uhne Glaubn“ als „e derbarmlicher Wicht“ apostrophiert und verurteilt wird. Auf diese Abwertung Nichtgläubiger durch diesen „sensiblen, feinfühligen und gemütvollen Menschen“, wie ihn Friedemar Walther auf Seite 18 seiner Broschüre charakterisiert, soll später noch eingegangen werden. Zunächst wollen wir uns mit der Intensität und Qualität des Katholizismus des Anton Günther befassen. Dafür bietet sich an, seine Biographie vom Ende seines Lebens aus zu betrachten. Der große Dichter und Sänger des Erzgebirges, der als überaus „gottesfürchtig und fromm“ bezeichnete Katholik hat bekanntlich am 29. April 1937 in seinem Haus in Gottesgab/Bozi Dar Suizid begangen (nicht „Selbstmord“, es war nicht er selbst, der sich da „ermordet“ hat – es waren die noch zu untersuchenden Umstände, denen er entfloh, die ihn letztlich “umbrachten”).

Die katholische Kirche hat zur Selbsttötung eine vorgefasste - natürlich auch hierin - dogmatische Lehrmeinung, die sich auf des Fünfte Gebot des Buches Moses stützt und als Durchführungsbestimmungen im „Katechismus der katholischen Kirche“ (hier zitiert nach der Ausgabe R. Oldenbourg Verlag, München 1993) festgeschrieben steht. Dort heißt es unter dem Stichwort „Selbstmord“ u.a.: „Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das uns Gott anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen“. (Reg.-Nr. 2280)
Aber der Papst, der dieses Regelwerk für seine Gläubigen unterschrieben hat, belehrt weiter, dass der Selbstmord „der natürlichen Neigung des Menschen, sein Leben zu bewahren und zu erhalten“ widerspricht. Und die Selbsttötung verstoße nicht nur gegen die Eigen-, sondern auch gegen die Nächstenliebe, „denn er zerreißt zu Unrecht die Bande der Solidarität mit der Familie, der Nation und der Menschheit, denen wir immer verpflichtet sind“. Und unter Reg.-Nr. 2281 setzt er noch wertend hinzu: „Der Selbstmord widerspricht zudem der Liebe zum lebendigen Gott.“
Soll man nun davon ausgehen, dass Anton Günther im Wissen um diese Strafgesetzgebung Gottes, erlassen durch dessen selbsternannten Stellvertreter auf Erden, bewusst gehandelt hat? War er sich seiner Tat, seiner Todsünde, seiner Ächtung, seiner Qualen im Fegfeuer, seines Imageschadens im Nachhinein überhaupt bewusst? Wie viele katholische „Selbstmörder“ – von der antiken Ophelia bis Rudolf von Habsburg - mag es wohl gegeben haben, die sich der Konsequenzen, die sich aus ihrem Glauben ergeben, bewusst waren – und die alle eine christliche Beerdigung bekamen?
Seine Abgrenzung zu den Menschen „uhne Glaubn“ (Anton Günther hat bei diesem Wort nicht den Mundartbegriff „Glaabn“ oder „Glahm“ verwendet) - also den Gottlosen oder Andersgläubigen (siehe dazu auch seine Erzählung „Judensklaven“ aus dem Jahr 1922) - zeigt eine gewisse Intoleranz, die allerdings nicht nur böhmischen Katholiken zu eigen ist.
Sein 1920 geschriebenes Gedicht wettert erbarmungslos gegen diese „Laterr uhne Licht“, und beschimpft sie als (bewusst hier vom Autor im Hochdeutschen wieder gegeben) „erbärmliche Wichte, Leuchter ohne Licht, leere Strohhalme, die nirgends Halt und nirgends Ruhe finden“. Sie sind für ihn „ein Haus ohne Grund, Baum ohne Kern, Pflanze ohne Regen, Himmel ohne Sterne, Glocke ohne Klang, eine wurmige Pflaume. Und sie finden keinen Frieden und keine Freude.“
Dann folgt in der dritten Strophe die pharisäerhafte Selbstbeweihräucherung, indem er dem Herrgott dafür dankt, dass ihm seine Mutter das Beten gelehrt hat, das ihn durch all die Zeit bis heute – in Freud und Leid – begleitet hat. Und er setzt in der letzten Strophe die Hoffnung in den Glauben, dass dann, wenn die Menschen zu ihm wieder zurück kehren, wir erst Frieden und Glück erlangen werden.
Seine Schlussfolgerung daraus zieht er mit der Mitteilung „drüm loß ich de Walt mit ihrn Olbrig on Spott, ich bleib trei men Glauben, on vertrau of menn Gott!“ – und was hat es ihm genützt, möchte man nachsetzen, angesichts des auch an sich und seinem Glauben gescheiterten „Sänger des Erzgebirges“?

Nicht erst seit heute weiß man, dass auch gläubige Menschen zum Suizid fähig sind. Neuere Forschungen gehen sogar davon aus, dass „vielleicht gerade diese Menschen immer wieder besonders gefährdet sind, weil sie ihr früheres, ´oberflächliches´ Leben aufgegeben haben und alle Dinge, auch die existentiellen, viel ernster angehen und nehmen.“ (siehe u.a. Kurt Blatter „Zwischen Wahn und Wirklichkeit“, Schwengeler Verlag, CH-9442 Berneck, 1993).
Wie entsprechende Studien belegen, kann der Glaube aber auch als Hilfe zum Bewältigen von Lebenskrisen angesehen werden. Bekanntlich lebte Anton Günther in einer solchen - nicht nur einmal. So gesehen tut sich im praktischen Verhalten des gläubigen Heimatdichters und der wissenschaftlichen Erkenntnis vom Glauben als Therapie ein Widerspruch auf. Psychologen entdecken die Religion als einen lange Zeit unterschätzten und übersehenen Heilfaktor für die seelische und körperliche Gesundheit. In einer wachsenden Zahl von Untersuchungen belegen sie: Wer an einen gütigen Gott glaubt, kommt gesünder und leichter durchs Leben. Warum hatte Günthers Glaube nicht diese Fähigkeit ihm gegenüber? Auch die Zeitschrift "Psychologie heute" (2012) zeigte den Zusammenhang zwischen Religion und Gesundheit auf. „Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass Religion der seelischen Gesundheit schade“ – heißt es dort.
AW - Anton Günther 2

Glauben ohne Halt

So gesehen hat ihm sein Glauben nicht den notwendigen Halt gegeben, um vom Suizid abzulassen. Von der gesundheitsfördernden Kraft des Glaubens profitierte also Anton Günther offenbar nicht, wie dies bei anderen – auch in Not geratenen Erzgebirgsmenschen - der Fall war, die ihr Schicksal vertrauensvoll in die Hand Gottes legten und ihre Probleme loslassen konnten, oder sich in weltferne und fatalistische Gebetshaltungen vom Typ „Dein Wille geschehe!“ flüchteten.
Der Glaube Anton Günthers muss also ein anderer gewesen sein. Vielleicht war es – neben dem Unerklärlichen in Natur und Verhältnissen – ein zutiefst verwurzelter Glaube an die Menschen. An Menschen, die negative, bedrohliche unberechenbare Verhältnisse zum Guten wenden können.
Ein Glaube möglicherweise, der bereits auch die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit in sich trägt. Wie weit Kirche, andächtiges oder frömmelndes Verhalten eines in erstarrten Traditionen erzogenen Menschen von Glaubensinhalten – auch katholischen – entfernt sein kann, dafür ist der Liedermacher aus Gottesgab ein markantes Beispiel. Dabei soll nicht bestritten werden, dass er auch einem diffusen Gottesbild, einer Schöpferidee nach hing und sie auch verehrte, achtete, anbetete. Den Vorgaben, Ritualen und Forderungen der Institution Kirche kam er mehr oder weniger nach.
Ob das aus tradierter Gewohnheit oder aus ängstlicher Überzeugung, gepaart mit volkstümlicher Naivität geschah, dazu wäre eine tiefere Charakteranalyse dieses einfachen, unaufgeklärten, vielleicht auch mitunter einfältigen Menschen notwendig. Diese nicht zu kritisierende Naivität Anton Günthers ist letztlich ein Spiegel seiner Biographie und der Verhältnisse, in denen er sich nur entwickeln konnte.
Ohne auf seine Vita näher einzugehen, dazu gibt es zahlreiche Publikationen, müssen doch die soziale Herkunft und die Bildungsmöglichkeiten mit in Betracht gezogen werden, wenn die Gläubigkeit und Frömmigkeit des Anton Günther analysiert werden sollen. Demzufolge ist bei Anton Günther eine spezifische Religiosität zu diagnostizieren, die aber den Suizid nicht verhindern konnte.

Unverschuldet ungebildet

Er entstammt armen Eltern vom bitter-armen Kamm des Erzgebirges. Wie groß die Not damals gewesen sein muss, belegt auch die Tatsache, dass von den zehn Kindern der Mutter Elisabeth (geb. Lorenz) – von denen Anton der zweite Sohn war – nur sieben am Leben blieben. Um sie ernähren zu können, musste Vater Johann nicht nur die kleine Landwirtschaft intensiv ausnutzen, sondern auch noch nebenbei in Gottesgab, Oberwiesenthal oder an der Grenze im Gasthaus „Neues Haus“ zum Tanz aufspielen, wobei Sohn Anton häufig anwesend war und wo dessen Interesse an der Musik geweckt wurde. Besonders als dem 12-jährigen die Mutter starb, kam noch mehr Arbeit auf den Jungen zu. Es prägte sich aber auch das Selbstbewusstsein des zukünftigen Ernährers in dieser Zeit aus. „Ich habe weder studiert, noch Musik gelernt, nur beim alten Süß Julius und später beim Vetter Traugott habe ich die Noten und etwas Geige spielen gelernt“, erzählt er von sich in seinen autobiographischen Notizen aus dem Jahre 1911. Das Gitarrespiel hatte er sich später selbst beigebracht. Die Erziehung lag ansonsten in den Händen seines „Großmütterlaa“ (Anna Günther, geb. Hell).
Anton Günther besuchte täglich zu Fuß die fünf Kilometer entfernt liegende Bürgerschule in Joachimsthal. Der Wunsch nach einer Lehre als Förster ging nicht in Erfüllung, der Vater hatte für ihn – weil er zeichnerisches Talent an ihm entdeckte – den Beruf eines Lithographen vorgesehen. Beim Lithographen Eduard Schmidt in Buchholz (siehe Tafel am Haus Karlsbader Straße 62, nähe ehem. Gaststätte „Dumme Sau“) ging er wegen guter Leistungen nur drei Jahre in die Lehre. Danach, im Jahre 1895, hatte er eine Anstellung im Beruf beim k.u.k. Hoflithographen A. Haas in Prag, wo er sechs Jahre lebte und wo eine gewisse Horizonterweiterung stattfand. Mehr ist an Schulbildung oder fachlicher Qualifizierung nicht nachzuweisen.
Von daher kann festgestellt werden, dass wir es bei Anton Günther zwar mit einem intelligenten und phantasiebegabten, auch sensiblen, aber unverschuldet ungebildeten und weltanschaulich nicht aufgeklärten Menschen zu tun haben, der aufgrund seines geringen Bildungsstandes für naive Betrachtungsweisen der ihn umgebenden Verhältnisse prädestiniert war.
Das Unerklärbare in Natur und Gesellschaft wurde auch bei ihm mit seinem Glauben kompensiert, denn der vermittelte zumindest weltfremde Erklärungen, die für ihn genau so akzeptabel waren, wie für seine Vorfahren.
Ein dichterisches Hinterfragen z.B. im Sinne Goethes nach Entstehen und Vergehen, vom Mechanismus, der die „Welt im Innersten zusammen hält“, lag zeitlebens kaum im Blickfeld des Volksdichters, sondern vielmehr die Schwächen und Liebenswürdigkeiten seines Umfeldes, - manchmal auch „de fallische Politik!“.

Von daher kann es sich hier nicht um eine Personen-, sondern vielmehr um eine Zeitkritik handeln, die aufgrund der sozialen Herkunft nur eine eingeschränkte Entwicklung für die Mehrzahl der Gebirgsbevölkerung möglich machte. Anton Günther hat sich in anerkennenswerter Weise aus dieser diffusen Mehrheit mit seinen volkskulturellen Aktivitäten heraus gearbeitet und etwas Einmaliges, Nachhaltiges - bis in unsere Tage - aus sich gemacht und hinterlassen.

Heimatverlust - Selbstwertverlust

Welche Beweggründe waren es also, die einen derart gläubigen und über weite Strecken erfolgreichen Menschen, insbesondere auch nach seinem bejubelten 60. Geburtstag (1936), ein knappes Jahr später haben freiwillig aus dem Leben scheiden lassen? In erster Linie war es offenbar der tragische Verlust des Glaubens! Sowohl der Glaube an sich, als auch der an die Veränderung der bedrückenden Verhältnisse ging ihm verloren – er wurde zu einem „Ungläubigen in eigener Sache“.
Vermutlich hätte Anton Günther abgestritten, den Glauben an den katholischen Gott verloren zu haben. Aber kann es nicht sein, dass sich der fromme Mann nun nach all dem Erlebten und Durchlittenen selbst sehr gottverlassen fühlte? Verlassen von einem Gott, der seine Kindheit, die Jugendjahre und den reifen Mann als sorgender Übervater begleitet hat? Sicherlich kamen ihm insgeheim an manchen Stellen seiner Lebensbahn Zweifel an der behütenden und schützenden Hand seines Hirten:
Anton Günther - 1. WeltkriegBeim frühen Tod seiner Mutter etwa, bei der Fußverwundung im ersten Weltkrieg (1916, siehe Foto), beim gefallenen Bruder Julius, bei der Teilung der Heimat und der bitteren Not in der Region, beim Tod vom Schwiegervater und der innig geliebten Großmutter, beim heraufziehenden „neien Wind“ seit 1933, angesichts der permanenten Einschränkungen seiner Verdienstverhältnisse - und später auch seiner Auftrittsmöglichkeiten - durch neue Devisenbestimmungen, oder der grassierenden Arbeitslosigkeit auch in seiner unmittelbaren Umgebung, - kurz die politischen, sozialen und persönlichen Verhältnisse sowie das Verhalten der Menschen angesichts dieser Situation, ließen Anton Günther nicht nur einmal am Glauben – in seinen verschiedensten Erscheinungsformen – zweifeln und sich gottverlassen fühlen.

Oder sollte das im fatalistischen Sinne etwa alles gottgewollt gewesen sein!? Schicksalsbestimmt gar?

Von NSDAP-Gauleiter Henlein begeistert

Auch seine Anbieterung an die nationalsozialistische Bewegung brachte ihm nur vorübergehend die erhoffte Anerkennung ein. Heilfurt schreibt dazu im Vorwort zu Anton Günthers Gesamtausgabe im Jahre 1937 die folgenden Sätze, die übrigens in den Nachworten der Folgeausgaben ab 1991 nicht mehr zu finden sind: "So bedeutete für ihn (Anton Günther) der Umbruch im Reich Erlösung und Erfüllung. Er begrüßte ihn aus tiefstem Herzen.... Im Frühling 1935 hat er sich auf denkwürdiger Weise zu dieser Bewegung bekannt. Ihr Führer Konrad Henlein (NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter im Sudetengau) sprach erstmalig im oberen Erzgebirge auf einer mächtigen Kundgebung in Joachimsthal. Anton Günther war begeistert."
Und weiter zitiert Heilfurt aus einem Taschenbuch des Anton Günther: "Es war etwas, das wir noch nicht erlebt hatten, das Erwachen des Volkes aus seinem langen schweren Traum. Als der Führer gesprochen hatte, konnte ich mich nicht mehr halten; ich ging hinauf und redete ungefähr folgendes: ´Arzgebirger! Wos ho ich in meine Lieder Eich die ganzn Gahr zugeruft? Vergaß dei Hamit net! Fest stieh zen Volk, der Hamit trei, su wolln mir Arzgebirger sei! Es is de heiligste Stond, di mir heit derlaabn, e annerer Wind weht, e neier Wind!´" Dann soll er sein jüngstes Lied "Dr neie Wind" gesprochen und unter brausendem Beifall Konrad Henlein gedankt haben - weiß Gerhard Heilfurd ergänzend zu berichten.  
In jenem Vorwort findet sich auch ein weiterer Hinweis auf den Gemütszustand des Liedermachers. Gerhard Heilfurt schrieb nach dem Tod des Heimatdichters dort: „Anton Günther litt während dieser Jahre nicht nur schmerzlich am politischen Verlust seiner Heimat, sondern auch an der sich immer unheilvoller auswirkenden völkischen Zerrissenheit hüben wie drüben, an der Auflösung des herkömmlichen Lebensgefüges.
Aber nicht nur während der letzten Jahre seines Lebens sind depressive Phasen bei ihm auszumachen. Bereits 1920 echauffierte er sich in einem Gedicht über „De fallische Politik“. Wenn er auch hier noch mit heiter-ironischem Grundton, besonders in den letzten Strophen, Kritik an den bestehenden Zuständen sowie gegenüber dem Verhalten der Menschen untereinander übt und dabei die Vergangenheit verklärt, kommt doch im Refrain immer wieder die Verszeile vor „Drüm na mer doch lieber enn Strick...“.

Eine versuchte Deutung des „Stricks“ auf einen diesbezüglichen Lebensüberdruß, scheint ins Leere zu laufen und ist auch zeitlich, trotzt der depressiven Grundstimmung, zu früh angesetzt. Es ist auch eine gewisse Vorsicht hinsichtlich der Reduzierung des Suizid des Anton Günther auf dessen Depressionen anzumahnen, wie dies auch in neuerer Literatur immer wieder versucht wird. Schließlich ist längst bekannt, dass psychische Störungen und Krankheiten, zu denen die Depressionen zählen, immer auch physische und insbesondere soziale Ursachen haben.
Und wie ist sein Gedicht „Allaa“ (Allein) aus dem Jahre 1907 zu bewerten? Auch hier, wie übrigens in manch anderen seiner Verse - auch aus früher Schaffenszeit - ist eine melancholische, mitunter schwermütige und nicht selten auch depressive Grundstimmung zu bemerken (eine diesbezügliche psychoanalytische Untersuchung seines Werkes steht noch aus). Dabei sind seine mentalen Rettungsanker auch hier wie dort meist der Wald, „Barg on Tol“ oder eben „de Haamit“ schlechthin. Weniger das Volk. Zu dem hält er kritische Distanz, nimmt einzelne Exemplare auf die Schippe oder belehrt sie auch schon mal mit drastischer Wortwahl. Im „Allaa“ kommt noch eine Komponente hinzu, die übrigens bei fast allen Siuzid-Gefährdeten nachweisbar ist: Das Selbstmitleid des Unverstandenen. Hier also ein gekürztes Beispiel aus o.g. Gedicht:
„Ich find niemanden of der Walt, daar mich su racht verstieht, (...)
(...) Berg on Tol on Höh, när die, känne mich verstieh (...)
On weil mich niemand racht verstieht, bleib ich su wie ich bi,
sing meiner Haamit när de Lieder, die ka mich doch verstieh.“

Opfer der Verhältnisse

In seinem vermutlich letzten Brief (8. April 1937), drei Wochen vor seinem Tod, ließ er an seinen „lieben, alten Freund“ Max Wenzel etwas über seinen Gesamtzustand durchblicken, der offenbar seinen Entschluss vorbereiten sollte. Dass er nicht nach Dresden zu Herrn Hofrats Geburtstag kommen konnte, schiebt er auf seinen gesundheitlichen Zustand, der sich verschlechtert hatte. „Das bringen alles die Verhältnisse und Umstände mit sich“ – klagt er. „Ja, alter Freund“, schreibt er weiter, „wir haben schöne Stunden miteinander verlebt und anderen bereitet, aber seit Jahren ist mir eben durch all die Verhältnisse so manches nicht mehr möglich.“
Hier sagt Anton Günther ganz deutlich, dass sein Zustand nicht erst aktuell entstanden ist, sondern „seit Jahren“ existiert. Und er macht immer wieder die Verhältnisse dafür verantwortlich, als deren Opfer er sich fühlt. Aufschlussreich ist dabei, dass er dieses Wort in dem kurzen Brief dreimal – und einmal „Umstände“ als Synonym – verwendet.
„Was sonst bei uns die Verhältnisse anbelangt, nun also, da sieht es gar nicht so rosig aus, denn auch wirtschaftlich habe ich eben tüchtig zu leiden und durch allerlei Schicksal bin ich eben recht gehemmt in allem“ – schreibt er an Max Wenzel verbunden mit der trügerischen Hoffnung, dass es „die Hauptsache ist, dass ich wieder richtig zusammen komme, dann wird sich manches wieder machen lassen.“
Diesem „Abschiedsbrief“ legte Anton Günther ein Gedicht bei, das er 1933 schrieb, das aber erst nach seinem Tode unter dem Titel „Traurig ower wahr!“ veröffentlicht wurde. Hierin wird deutlich, dass er auch noch einen anderen Glauben verloren hatte, nämlich den an sein erzgebirgisches Volk, „das in seinem Weltbild immer einen zentralen Rang einnahm“, wie Gerhard Heilfurth richtig bemerkt.

„Dos alte Sprichwort: ´Trau, schau, wem...´
hot heit sei Galting wieder,
ontern eignen Volk sei de ärgsten Feind,
die verroten ihre eignen Brüder.
Die stacken in alle Winkel rüm,
hinter Fanster, Baam on Mauern.
Wie Katzen schmeicheln sie sich ra
On tunne när drauf lauern,
bis sich aaner e Mol verschnappt,
tut frei ve der Laaber reden,
ehrlich on racht, när gut gemaant,
do spinne se schu ihre Föden.
Die Verleimder, die ihre eignen Lügn
Gelaabn, ball drinne ersticken,
wolln en guten Menschen aus Haß on Neid
när aas of´n Zeig nauf flicken.
Mer muß emol sogn die gruße Schand,
es lässt sich nimmer vermeiden,
onnern Feind haben mir ontern eigene Volk,
drüm haben mir su schlachte Zeiten.
Doch ve ren Verräter frist kaa Rob,
Waar lügt betrügt immer wieder,
War sei eignes Volk verrotn tut,
Stürzt salber in Abgrund nieder.
Denn über ons is ene Gerachtigkeit,
aamol muß sich jeder malden,
on wenn´s zen letzten Stündel is,
der Herrgott tut alles vergaltn!“

Abschiedsbriefe

In einer E-Mail vom 11. Juli 2004 schreibt die Enkelin Anton Günthers, Christine Pollmer (geb. Lehmann) aus Oberwiesenthal, an den Autor dieser Zeilen auf dessen Anfrage u.a.: „Ob es nach dem oben erwähnten Brief an Max Wenzel noch weiteren Schriftverkehr an andere Adressen gab, wissen wir nicht. In unserem Besitz befinden sich nur wenige handschriftliche Karten und Briefe, die ganz persönlich an meine Mutter und Großmutter gerichtet sind. Ein Archiv gibt es nicht. Der Nachlass – Zeichnungen, Schriftstücke usw., - musste bei der Vertreibung aus dem Sudetenland 1945, wovon auch meine Großmutter (die Frau Anton Günthers) betroffen war, im Wohnhaus in Gottesgab (Bozi Dar) verbleiben. Aufgrund der politischen Gegebenheiten blieb es meiner Großmutter verwehrt, noch einmal ihren früheren Besitz zu betreten. Sie starb 1958 bei uns in Oberwiesenthal.“
Es bleibt zu vermuten, dass sich unter den Briefen „die ganz persönlich an meine Mutter und Großmutter gerichtet sind“, auch ein Abschiedsbrief an Anton Günthers Frau befindet. Warum er der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wird, bleibt zwar unverständlich, muss aber letztlich respektiert werden.
In einem vorhergehenden E-Mail vom Juni 2004 schreibt die Enkelin von Anton Günther bezüglich des Briefwechsels mit seiner Frau vor seinem Suizid auf eine entsprechende Anfrage des Autors: „Die Entscheidung unseres Großvaters, seinem Leben ein Ende zu setzen, müssen wir respektieren. Er kann sich dazu nicht mehr äußern, was bleibt, sind Spekulationen. Auch 67 Jahre nach seinem Tod sollte die Privatsphäre eines Menschen bewahrt werden.“
Wir wollen uns weder an weiteren Spekulationen zu den Ursachen seines Todes, noch an der Verletzung der Privatsphäre von Anton Günther beteiligen.
Dennoch darf festgestellt werden, dass in der Literatur über das Verhältnis dieser öffentlichen Persönlichkeit zu seiner Frau Marie (geb. Zettl) so gut wie nichts zu finden ist. Von daher ergeben sich schon Fragen nach dem Umgang der beiden miteinander. Auch danach, wie sie mit den Kindern (Erwin, Maria und Irmgard) – und sich selbst – zurecht kam, wenn der Vater viel unterwegs war. Wie konnte sie im Schatten dieses bekannten und beliebten Heimatdichters existieren? Oder einfach – was war das für eine Frau? Was für eine Ehe führten die beiden? Schließlich wäre auch wichtig zu erfahren, wie sie zum Suizid ihres Mannes stand. Wie reagierten die Kinder darauf? Hat Marie diese Entwicklung kommen sehen? Gab es Anzeichen dafür, Auseinandersetzungen, Zerwürfnisse gar im Vorfeld dieses Suizids? Die Nachfahren der Mutter und Großmutter sollten dort noch ein wenig Licht ins familiäre Dunkel der Günthers bringen, damit eben beklagte Spekulationen gar nicht erst ihre Blüten treiben können...

Himmlische Chance trotzt „Todsünde“

Anton Günther stand 1937 vor einem Scherbenhaufen: Die Heimat verloren, vom Volk enttäuscht und verraten, keine Auftritte mehr, von Gott verlassen und gestraft. Dazu materiell enorm eingeschränkt und psychisch schwer angeschlagen. Krank und erst (oder schon?) 60 Jahre alt. Das Image in höchster Gefahr. Nutz- und Sinnlosigkeit dieses Lebens eingebildet und auch wirklich vorhanden. Wohin soll sich eine solch sensible „ungläubige“ Künstlernatur wenden? Doch wohl nur noch gegen sich!
Die Geschichte der Suizide – gerade unter Künstlerpersönlichkeiten – belegt diesen nahezu unausweichlichen Weg in die „Todsünde“, die allerdings nur in den Augen einer selbst mörderischen katholischen Kirche diesen Makel trägt. Der Glaube – unabhängig von der Institution – hat auch hier das Prinzip Hoffnung parat. Aber im dogmatischen Katechismus unserer Tage, der über weite Strecken das mittelalterliche Weltbild konserviert und vom ehemaligen Kardinal Ratzinger (später Papst Benedict XVI.) mit zu verantworten ist, wird schon ein gewisses Verständnis aufgebracht und diese Hoffnung begründet: „Schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qualen oder Folterung können die Verantwortung des Selbstmörders vermindern. – Man darf die Hoffnung auf das ewige Heil der Menschen, die sich das Leben genommen haben, nicht aufgeben.
Auf Wegen, die Gott allein kennt, kann er ihnen Gelegenheit zur heilsamen Reue geben. Die Kirche betet für die Menschen, die sich das Leben genommen haben.“
(Reg.-Nr. 2282/2283)
Somit hätte also unser „Todsünder“ Anton Günther auch noch eine himmlische Chance, falls Gottes Weg irgendwann einmal seinen kreuzen sollte. Man möchte dem Mann aus Gottesgab von hier unten aber zu gerne zurufen:
Anton Günther - grab1


Lieber Tolerhanstonl,

„Bild dr nischt ei!“, auf eine solche Chance kannste wahrscheinlich noch lange warten. Glaube lieber weiter an Dein erzgebirgisches Volk, denn das hat Dich auch in Deiner schwersten Stunde verstanden, wenn Du es auch nicht mehr erleben konntest. Sie haben Deinen freien Tod auch als Signal begriffen, um über die vielen freien und unfreien Tode, die nach 1937 über unser Volk kamen – und von großen Teilen Deines Volkes weltweit mit verursacht wurden – sich selbst besser zu erkennen. Lieber Anton Günther, Du hast somit nichts zu bereuen! Der Glaube soll Berge versetzen, heißt es im Sprichwort. Tolerhanstonl, ich danke Dir dafür, dass Du in Deinem Leben nie ganz so geglaubt hast, wie man es Dir nachträglich von gewissen Glaubensbrüdern andichten will, - wer weiß, wo sonst meine Erzgebirgsberge mit all Deinen Liedern heute zu finden wären...
Aber auch das sollst Du wissen, lieber Anton: Leider wird Dein ehrlicher Patriotismus, der allerdings auch ein bisschen das Zeug zum Nationalismus in sich trägt, schon wieder von Leuten missbraucht, die daraus fremdenfeindlichen Honig saugen wollen, und wogegen sich schon wieder zu wenige auflehnen, um dem braunen Ungeist in Sachsen die Stirn zu bieten. Du solltest sie sehen, jene „Erzgebirg(l)er“, wenn sie Dein schon recht missverständliches Lied „Deitsch un frei wollen mer sei...! (1908)“ gänzlich unmissverständlich, mit leuchtenden Augen aus ihren Mündern grölen und sie es zur (un)heimlichen Hymne ihrer Partei erkoren haben. Ich kann dann erahnen, wie Du Dich 1933 gefühlt haben musst, und warum Du mit solchen Deutschen und ihrer „fallischen Politik“ – trotzt Deiner vorübergehenden euphorischen Annäherung 1935 an sie – letztlich nichts zu tun haben wolltest.
Du warst vermutlich schon immer eine ehrliche, gute erzgebirgische Haut.
Halt „aner ven alten Schlog“ – und das möglicherweise bis zu Deiner letzten Stunde.

„On kömmt e Mol mei letzte Stond,
e Mol muß´s doch aah sei,
do pack ich meine siebn Zwatsching z´amm
on zieh in Himmel nei.
Zen heiling Petrus sog ich geleich,
nu´r wird mich wuhl verstieh:
Du ich bi fei noch aaner ven alten Schlog
On bleib aah wie ich bi!“

(1900)

Gotthard B. Schicker