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Der Mann aus Ardistan
Karl May und das Erzgebirge
Anlässlich des diesjährigen Doppeljubiläums von Karl May - 175. Geburtstag (25. Februar) und 105. Todestag (30. März) – sollen ein paar unbekanntere Seiten des weltbekannten Schriftstellers im Bezug auf das Erzgebirge in seiner Biographie und seinem Werk beleuchtet werden.
Wenn von Karl May die Rede ist, dann tauchen die Bilder der Kindheit und Jugend vor einem auf, wie er uns mit seinen Büchern in ferne Welten entführte und die ersten Impulse für eine lebenslange Leselust gab. Erst später dann befasste man sich vielleicht mit dem Leben dieses Mannes und erfuhr gar etwas von einem Aufschneider und Kleinkriminellen, einem Lügner und Zuchthäusler. Nur wer sich davon nicht schockieren lässt, sich weiter in die Biographie vertieft, kann etwas vom gelebten und aufgeklärten Humanismus Mays, seiner Aufgeschlossenheit und Toleranz den Fremden gegenüber erfahren. Haltungen, die bis in seine letzten Tage reichten und dem die erste Friedensnobelpreisträgerin, Bertha von Suttner, bei Mays Rede in Wien (22.3.1912 im Großen Sophiensaal vor 3.000 Zuhörern- eine Woche vor seinem Tod) ihren „Gesinnungsgenossen“ deswegen huldigte. Kaum, oder nur beiläufig, wurde der Mensch May und sein Werk auf seine Herkunft und auf die Einflüsse hin untersucht, die aus seiner sächsischen Heimat, insbesondere dem Erzgebirge, auf ihn kamen. Es ist daher an der Zeit, dem Erzgebirger Karl May, der mit seiner Durchsetzungsgabe, Beharrlichkeit und zeitweiligen Kleinbürgerlichkeit ein echter Vertreter dieses kleinen Gebirgsvolkes war, ein paar Zeilen zu widmen.
Ein Lieblingskind der Not
Waren es doch insbesondere die Jahre in Ernstthal und Umgebung, die sein gesamtes Leben geprägt haben. Es war seine Heimat, das Erzgebirge, das ihn mitunter fast vernichtete, später aber immer wieder Halt gab, wenn er zu scheitern drohte. Es waren aber auch Menschen von hier oben, die ihm nicht nur wohl gesonnen waren, ihn denunzierten, Neid und auch Hass über ihn ausgossen, ihm Schaden zufügten und ihn verkannten. Wozu er allerdings auch mitunter genügend Anlaß bot, der solches provozierte. Aber als religiöser Humanist verfügte er auch über ein hohes Maß an Toleranz, die ihn befähigte, seine Heimat dennoch nicht zu verachten oder sie gar für immer zu verlassen. Und er erinnert sich an seine Herkunft:
„Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers. Mein Vater war ein armer Weber. Meine Großväter waren beide tödlich verunglückt. Der Vater meiner Mutter daheim, der Vater meines Vaters aber im Walde. Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des ´Krähenholzes´, aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und auch die Brote. Überhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen.“
Ins „ärmste, schmutzigste Ardistan“ ist Karl Friedrich May am 25. Februar 1842, um 22 Uhr in der Niedergasse also hineingeboren worden, wie er die kleine Erzgebirgsstadt Ernsthal in der sächsischen Kreisdirektion Zwickau (erst 1898 mit Hohenstein zusammengelegt) in seiner Autobiographie aber auch in seinem Spätwerk „Adistan und Dschinnistan“ nennt. Und dort herrschte nach seiner Meinung „tief unten über Ardistan ein Geschlecht von finster denkenden, selbstsüchtigen Tyrannen, deren oberstes Gesetz in strenger Kürze lautet: ´Du sollst der Teufel deines Nächsten sein, damit du dir selbst zum Engel werdest!´ Und hoch oben regierte schon seit undenklicher Zeit über Dschinnistan eine Dynastie großherziger, echt königlich denkender Fürsten, deren oberstes Gesetz in beglückender Kürze lautet: ´Du sollst der Engel deines Nächsten sein, damit du nicht dir selbst zum Teufel werdest!´“
Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud
Dieses Lebens-Fazit resultiert aus all seinen Erfahrungen, die er auch in seiner Heimat machen musste. Dabei waren es aber nicht immer Menschen aus dem Erzgebirge, die ihm das Leben schwer machten, sondern auch Zugereiste, Fremde – und insbesondere er sich selbst. Enstthal war damals eines der Zentren der Armut im Erzgebirge. Von den 2.630 Einwohnern lebten mehr als 80% von der Heimweberei, die seit Beginn des Jahrhunderts stets im Niedergang begriffen ist. Über 80 Haushalte zählen 1845 zu den Ärmsten der Armen, wie Ludwig Pasch beim Aktenstudium herausgefunden hat. Nebentätigkeiten, wie der Schmuggel über die nahe Grenze, waren da an der Tagesordnung. Viele verließen ihre Heimat, um eine neues Leben in der Neuen Welt zu beginnen. Das Schulwesen ist wegen hoher Verschuldung nur noch teilweise aufrecht zu erhalten. Einen „Kellerkeim von Jungen“ nennt Arno Schmid das Kind May treffend, das da mit schimmeligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud heranwächst. Die Ernährungslage ist katastrophal, Mangelkrankheiten sind die Folge. Kein Wunder also, wenn Karl May blind geboren wird und erst mit fünf Jahren – nach zahlreichen Pfuschern – von Ärzten aus Dresden das Augenlicht wieder erhält. Das Elend der Familie May muss unbeschreiblich groß gewesen sein. Neben der stetigen Existenzangst, der Armut und den andauernden Entbehrungen kommt noch die psychische Belastung hinzu, die durch die hohe Kindersterblichkeit auch im Haus May verursacht wurde.
Von den vier Kindern, denen Karl folgte, starb das erste nach neun Monaten, das dritte kurz vor seinem zweiten Geburtstag, das vierte wurde nur sechs Wochen alt. Die sechs letzten Kinder starben alle kurz nach der Geburt. Somit ist Karl das fünfte von 14 Kindern, die seine Mutter Christiane Wilhelmine Weise (1817-1885) seinem Vater, dem alkoholkranken Heinrich Karl August May (1817-1888) zwischen ihrem 19. und 43. Lebensjahr gebar. Die Mays sind eine alteingesessene Weberfamilie im Erzgebirge. So hat Hans Zesewitz aus Hohenstein-Ernstthal eine noch unveröffentlichte Ahnentafel entdeckt, aus der hervorgeht, dass ein Urahn in der siebten Vorgeneration, ein Andreas Stephan (1666-1719), Webermeister in Ernstthal war. Auch fast alle anderen Vorfahren, einschließlich Karls Vater, waren erzgebirgische Weber. Mütterlicherseits war der Großvater, Christian Friedrich Weise (1788-1832), ebenfalls Weber, der sich aber das Leben nahm „Ursach: Trunkenheit und Verzweiflung“, wie das Kirchenbuch vermerkt.
Der birkene Hans
Leider haben beide Elternteile auf Karl May negativen Einfluss ausgeübt. Wenn seine Elogen über die Mutter (ob in der Selbstbiographie, oder im Gedicht) auch das scheinbare Gegenteil vermuten lassen, so ist doch nachzuweisen, dass sie sich eher passiv und abweisend ihrem Sohn Karl gegenüber verhält. Sie ist aber, trotz der enormen Belastungen, die aktive Seite der Ehe. So rafft sie sich z.B. auf, um dem Elend zu entfliehen, einem eigenen Beruf nachzugehen. In Dresden absolviert sie einen Kurs als Hebamme, den sie am 13. Februar 1846 mit „vorzüglich gut“ absolviert. Darauf hin erhält sie die frei Stelle als Hebamme von Ernstthal. Ein Posten, den später ihre Tochter Caroline Wilhelmine verh. Selbmann (1849-1945) übernehmen wird. Das Selbstbewusstsein der Mutter wird auch gespeist durch eine Erbschaft, die sie 1838 antreten konnte und zu der neben Barvermögen auch das Geburtshaus der Mays gehörte.
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Karls Vater bringt aber innerhalb kürzester Zeit auch diese Ersparnisse unter die Leute – insbesondere ins Wirtshaus. Auch die Investition in einen Taubenhandel bringt nicht den erhofften Erfolg. Bald schon muss das Haus in der Niedergasse verkauft werden. Der Erlös von 515 Talern rinnt in den folgenden Monaten durch die Kehle des Vaters, während sich die Familie mit dem Nähen von Leichenhandschuhen und Leichenwäsche in der Mietwohnung im Haus des Webermeisters Selbmann am Markt über Wasser halten muss. Und obwohl der Vater gegenüber Karl mit Schlägen nicht zimperlich umgeht und der Junge oft den „birkenen Hans“, die Zuchtrute aus gedrehten Birkenzweigen, die stets am Webstuhl griffbereit hängt, zu spüren bekommt, schreibt er nahezu liebevoll über ihn in seiner Autobiographie „Mein Leben und Streben“: „Mein Vater war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Übermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der großen Armut wegen. Er hatte nie eine Schule besucht, doch aus eigenem Fleiße fließend lesen und sehr gut schreiben gelernt. Er besaß zu allem, was nötig war, ein angeborenes Geschick. Was seine Augen sahen, das machten seine Hände nach. Obgleich nur Weber, war er doch im stande, sich Rock und Hose selbst zu schneidern und seine Stiefel selbst zu besohlen. Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel.“
Erzgebirgische Dorfgeschichten
Die Sozialisierung des Karl May hat im Erzgebirge, in diesem krassen, widersprüchlichen Milieu stattgefunden. Und diese Prägungen beeinflussten auch wesentlich sein gesamtes Leben und Werk. Seine Blindheit, und damit auch seine Kindheit, ist im fünften Lebensjahr zu Ende. Von 1848 bis 1856 besucht er die Schule. Karl ist ein begabter Schüler. Das nutzt der Vater aus, indem er einerseits seinem Jungen ein Vielwissen verschreibt, das er über Kontakte zum Pfarrer und Rektor, aber auch durch Bereitstellung von alten Gebetbüchern, Rechenfibeln und antiquierten Naturgeschichten organisiert. Und andererseits will der Vater offensichtlich an seinem Jungen damit etwas gut machen, bzw. sein eigenes Versagen kompensieren.
Hier scheint auch eine Erklärung zu liegen, warum Karl Mays Umgang mit Wissen, insbesondere auch mit den Wissenschaften, sich auf hohem dilettantischem Niveau ansiedeln konnte. Vergleichbares gilt auch für die Förderung der musikalischen Begabungen des Jungen: Beim Kantor erlernt er das Geigen-, Klavier- und Orgelspiel sowie Grundbegriffe des Tonsatzes, was sich später in bescheidenen Kompositionen niederschlagen sollte. Seine Freizeit ist also ausgefüllt weit über das hinaus was sonst derartige Armut ermöglichte. Aber offensichtlich gab es da doch noch Reserven, die der Vater entdeckte und mit einer für den 12jährigen Karl nicht besonders förderlichen Beschäftigung ausfüllte: Kegelaufstellen.In der Hohensteiner Schankwirtschaft „Engelhardt“, in der Vater May auch Stammgast war, wurde ein Kegelaufsetzer gesucht. Und so verbringt Karl die restliche freie Zeit im Dunstkreis der berauschten Gesellschaft, deren Stammtischgespräche – die hoch-politischen und die derb-zotigen – ihm nicht verborgen blieben. Hinzu kommt noch jene Hintertreppenbücherei der Kneipe, die von Schund- und Kitsch-„Literatur“ überquoll. Und trotz alldem verlässt Karl May die Rectorats-Schule mit dem Prädikat „Sittliches Verhalten 1, Wissenschaften 2“. Inwieweit all das auf sein späteres Gesamt-Werk nachhaltig Einfluss hatte, ist bereits ausführlich von der Literaturwissenschaft untersucht worden.
Während in einzelnem Werken der Indianerliteratur immer mal wieder sowohl inhaltlich (Bräuche, Lieder) als auch sprachlich (typische erzgebirgische Ausdrücke sind eingeflochten) Hinweise auf die Erzgebirgsheimat von Karl May nachzuweise sind, so ist die Gegend seiner Geburt in den „Erzgebirgischen Dorfgeschichten“ im „Buschgespenst“ sowie in den Bänden 43 und 44, „Aus dunklem Tann“ und „Der Waldschwarze“, direkt repräsentiert.
Ich führe Dich hinauf ins Gebirge...
Insbesondere in den „Erzgebirgischen Dorfgeschichten“ kommt seine Hinwendung zur unmittelbaren Heimat und ihren Menschen zum Ausdruck. Im Vorwort schreibt er 1909 dazu: „Komm, lieber Leser, komm! Ich führe Dich hinauf in das Gebirge. Du kannst getrost im Geiste mit mir gehen. Der Weg ist mir seit langer Zeit bekannt. Ich baute ihn vor nun fast dreissig Jahren, und Viele, Viele kamen, die meine Berge kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! Dass es auch Höhen giebt, in denen man nach geistgem Erze schürft, das sahen sie bei offnen Augen nicht, und darum ist es unentdeckt geblieben. Ich führte sie dann einen anderen Weg, der von der flachen Wüste aufwärts stieg, durch fremdes Land und fremde Völker führte und oben enden wird bei Marah Durimeh (Anm. d. Autors.: das ist seine „Friedensfürstin“, die wohl Berta von Suttner zur Vorlage hatte). Auf diesem Weg begann man, zu begreifen. Man sah nun endlich ein, was die Erzählung ist: nur das Gewand für geistig frohes Forschen. Man hat gelernt, zum Sinn hinabzusteigen, der uns des Erzes Adern, der Tiefe Reichthum zeigt. Wer das ihm Nahe nicht verstehen will, den muss man klüglich in die Ferne leiten, wenn auch auf die Gefahr, dabei verkannt zu werden! Heut kehr ich nun ins Vaterland zurück, um jenen alten Weg aufs Neue zu betreten. Er ist nicht weit und auch nicht unbequem. Er führt nur auf ein kleines ´Musterbergle´. Wir nehmen uns ein ´Sonnenscheinchen´ mit, so einen Seelenstrahl, der uns zu leuchten hat, bis wir an unser kleines ´Häusle´ kommen. Im ´Bergle´ giebt es Silber, wohl auch ein wenig Gold. Das wird bewacht vom Geist des Neubertbauers. Wer diesen Geist, den doppelten, begreift, der darf den Schatz und dann auch selbst sich heben!”
Aber auch in seinen Werken „Weihnacht“, „Frieden auf Erden“ und in seiner Selbstbiographie „ICH“ sind immer wieder Bezüge auf seine Heimat festzustellen. Ebenso in den Blättern „Der Löwe von Sachsen“ (1849-1902) oder in der 1875 in Dresden herausgegebenen Zeitschrift „Schacht und Hütte“ sind vielfach Themen aus dem Erzgebirge vorhanden. Nicht zuletzt drückt sich die Heimatverbundenheit des Erzgebirgers Karl May auch in dessen Lyrik aus. Als Beispiel soll hier das Gedicht an seine Mutter aus den „Himmelsgedanken“ (Freiburg 1909) folgen. Verse, die den Lebenskreis, auch zu seiner „Mutter“-Heimat – dem schmerz- und freudenreichen Erzgebirge – schließen helfen:
An die Mutter
Ich hab gefehlt, und du hast es getragen, So manches Mal und, ach, so lang, so schwer. Wie das mich nun bedrückt, kann ich nicht sagen; O komm noch einmal, einmal zu mir her! Du starbst ja nicht; du bist hinaufgestiegen Zu reinen Geistern, meiner Mutter Geist. Ich weiß, du siehst jetzt betend mich hier liegen; O komm, o komm, und sag, daß du verzeihst! Komm mir im Traum; komm in der Dämmerstunde, Wenn, Stern um Stern, der Himmel uns umarmt. Bring mir Verzeihung, und bring mir die Kunde, Daß auch die Seligkeit sich mein erbarmt!
Gotthard B. Schicker
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