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Ein Dorf voller Mitmenschlichkeit
Die neueste und sehr erfolgreiche „Anatevka“-Inszenierung des Eduard von Winterstein-Theaters schwelgt in jüdischer „Tradition“, hebt sie gleichzeitig ins Jetzt, die Menschlichkeit in den Mittelpunkt und zeugt vom Über-Lebenswillen eines Volkes – eine großartige Ensembleleistung!
Die weltberühmte, aber bei uns sicher den wenigsten bekannte literarische Vorlage von Scholem Alejchem erschien 1916 und beschreibt das Leben des Milchmanns Tevje, der mit sieben Töchtern gesegnet wurde. Im Stück sind es fünf und mit nur dreien beschäftigt sich die Handlung intensiver. Und dennoch ist der Musicalabend (Premiere am 25.10.2015) prall gefüllt in der Zeit, mit Geschehnissen in der Handlung, die eine Welt erschließen, die uns immer noch eine fremde ist. Gelegen in der unter zaristischer Herrschaft stöhnenden Ukraine, ist das jiddisch-fiktive Schtetl Hort und Rückzugsgebiet mehr oder weniger armer Juden, ständig von Pogromen bedroht als „Sündenböcke“, - „den einzigen Böcken, die Milch geben“ wie der Milchmann Tevje kalauert. Wieder wie vor 12 Jahren spielt Leander de Marel (Foto) die Hauptrolle, dessen berühmtester Song „Wenn ich einmal reich wär...“ zum allgemeinen Stoßseufzer aller armen Schlucker wurde.
Mit Altersweisheit geläutert ist er ein armer, aber lebenskluger, diplomatisch agierender, geachteter Bürger in der männlich geprägten, aber von Frauen durchaus mitbestimmten Dorfgemeinschaft. Die beeindruckende und berührende Regie von Tamara Korber konnte auf die Erfahrungen dieses Erzkomödianten bauen, der in den einzelnen Bildern wie ein Mittler zwischen alter und neuer Welt agiert. Und so wurde das erste Bild gleich ein Paukenschlag: Niemand ist etwas ohne die Gemeinschaft. Die „Tradition“ bestimmt das Leben und den Einzelnen. Hat schon der Autor die literarische Vorlage punktgenau platziert, kommt der Zauber der jüdischen Volksmusik, des Klezmer durch die Musikvorlage von Jerry Bock und die Liedtexte von Sheldon Harnick (deutsch von R. Merz und G. Hagen) in einer wunderbaren Einheit daher. Die Bühne bebt und tanzt, weint und trauert, feiert und versöhnt sich. Und der Fiedler spielt dazu leibhaftig auf dem Dach (Boris Nikitenko, der ehemalige 1. Konzertmeister der Erzgebirgsphilharmonie) als Tongeber des Lebens und als Typ für die herrlichen Mollstimmungen. Flankiert von Ronny Wiese an der exzellent gespielten weinenden, lachenden, flüsternden, sprechenden, aufheulenden Klarinette und dem ebenso meisterlichen Akkordeon von Rico Reinwarth - auf der Bühne! Einmalig die beiden (oder besser: die drei), und nur so auf dem Annaberger Theater zu erleben, einfach großartig! Unten aus dem Graben erklingen die Musicalmelodien mit Akribie, Schwung, Leidenschaft und enormen Einfühlungsvermögen in diese Tonsprache dirigiert vom 1. Kapellmeister der Erzgebirgischen Philharmonie, Dieter Klug. Er führt den gut gestimmten Klangkörper so, dass niemand auf der Bühne überstimmt wird, die Bläser die von den Bretter kommenden Akzente quirlig vervollständigen oder aus den Streichern, den Flöten oder Blechbläsern heraus das Geschehen auf der Szene in Stimmung versetzen. Oben auf dem Bühnenrund gruppieren sich die Volkstypen in einer wahrhaft verwandlungsfähigen und multifunktional nutzbaren Traumkulisse von Robert Schrag (Ausstattung und Bühnenbild). Ein nach hinten offenes Rund in Farb- und Formandeutungen á la Marc Chagall, das, gut augeleuchtet, zum Strahlen kommt, befindet sich ein be- und untergehbarer Aufbau, der als Haus, als Treppe, als Bett, Küche und - mit ein paar Ausklappungen - sogar als Schiffsrumpf die Bühne verändert, aber nie verstellt. Endlich mal wieder ein Raumerlebnis! Darin verlieben sich Tevjes Töchter und suchen sich ihre Liebsten selbst aus: Ein Affront nach dem anderen, verstoßen sie doch gegen die Tradition der in alles ihre Nase steckenden Heiratsvermittlerin (Bettina Grothkopf) und der gefragt werden wollenden Eltern: Tevje und seine mit leicht jiddischen Akzent sprechende, selbstbewusste Frau Golde (Bettina Corthy-Hildebrand).
Leander de Marels Tevje ist der liebende Ehemann und Vater, der sich gegen alle Widerstände um den Finger wickeln lässt und in immer widrigsten Umständen doch in die Paarungen einwilligt. Da sind seine zupackende Tochter Zeitl (Kerstin Maus) und ihr bettelarmer, spindeldürrer Schneider Motel (Brian Sommer), der ganz auf die Technik einer Nähmaschine hofft und sich als ein kurioses Faktotum des Fortschritts bewegt. Dann die schön-grazile - und auch so singende - Hodel (Therese Fauser), die sich in dem aus Kiew kommenden Studenten und Revolutionär Perchik (Jason-Nandor Tomory) verliebt. Beide sehr überzeugend im jugendlichen Übermut, mit der Tradition des getrennten Tanzens von Frauen und Männern Schluss zu machen, und berührend im Abschied Hodel-Tevje auf dem Weg in ihre Verbannung. Schließlich die Bücher liebende Tochter Chava (Christiane Schlott), die hin und hergerissen zwischen Familie, Volk und doch zu ihrem Russen Fedja (Frank Unger kam, sang und siegte...) hielt und die Tragik überzeugend spielte. Geradezu Mittelpunkt der Auseinandersetzung waren die Szenen zwischen Tevje und seiner Frau. In ihrem und Duett “Ist es Liebe...?“ vereinten sich Komik und Sentiment auch gerade durch die unpretentiöse Darstellung von Bettina Corthy-Hildebrandt, die auch den richtigen Duett-Ton traf, während Leander de Marel - der sonst stets mit sonorem Organ überzeugt - hierbei stimmlich etwas zu belegt den Einsatz vergrummelte. Auch Piano-Töne bedürfen ihres zwerchfellgestützten Stimmansatzes..., wenn schon die Mikroporte nicht sensibel genug ausgesteuert zum Einsatz kommen. Schließlich hat auch die letzte Reihe im Rang einen bezahlten Anspruch auf Textverständlichkeit.
Bei dieser mal turbulenten, dann wieder anrührenden Inszenierung von Tamara Korber war die Bühne voller skurriler Typen, die alle zum Gesamterfolg beitrugen: So der alternde, reiche Fleischer Lazar Wolf, der keine der Töchter Tevjes abbekam. Gespielt und gesungen von László Varga, der hörbar schöne, satte Töne in die Bühnenstimmung hinein hielt, seine grimmige Maske und den tiefgerutschten Bauch aber etwas zu vordergründig vor sich her trug. Schandels Mutter (Heike Schlott) war die begeistert tänzelnde Braut-Schwiegermutter mit feinem Alterscharme. Der Rabbi (Matthias Stephan Hildebrandt) mit seinem Talent, alle einfachen Bedürfnisse aus der Bibel zu begründen, war der richtige Typ dafür am Platze und zelebrierte unaufdringlich die jüdische Hochzeit - immer komisch-beflissen assistiert von seinem Sohn Mendel (Dominique Anders). Dem Affen Zucker gaben dann alle im Traum-Bild, wo Tevje mithilfe von Erscheinungen der Vorfahren seiner Frau die Hochzeit seiner Ältesten schmackhaft machen wollte. Da wurde es mit Leuchtfarben-Masken auch richtig hollywoodig, was die Ironie der Autoren an der eigenen „Tradition“ etwas verdeckte. Bettina Grothkopf thronte als böse Witwe Lazar Wolfs auf hohem Podest und gab mit halliger, aber sehr angenehmer Opernstimme die Rachegöttin. Michael Junge schließlich war der Hauptmann des Zaren am Orte, der Tevje in menschlicher Weise vor Pogrom und Vertreibung warnt, - eine der Figuren, die das Stück vor gut-böse Klischees bewahrt.
Ein Glücksumstand des Abends waren auch der Chor und die Chor-Solisten, die das Rund der Charakterköpfe nachdrücklich vervollständigten, so u.a. der Bettler Nachum von Albrecht Hunger, der Gastwirt des Andreas Hirschböck, der Hutmacher Jussel von Max Lembeck oder die Großmutter Zeitl von Juliane Roscher-Zücker. Auch im Chorgesang gelang eine besondere Harmonie zwischen Bühne, Orchestergraben und im Zuschauerraum - von wo aus der Männerchor sogar recht edle Töne produzierte (Chordirektor Uwe Hanke), - und bewegen kann sich die singende Zunft dann auch noch! Eine meisterliche Leistung lag in den Händen der Choreographin Siegrun Kressmann, die mit Feingefühl die jüdischen Tanzszene, mit Lust die Polkas sowie die russischen Temperamentsausbrüche in Formen setzte. Ein Bravo dem Extraballett mit der Einbeziehung einiger unserer Asylbewerber in ungewohnte Bewegungsabläufe. Dass dem Abschlussbild vielleicht die tränenreichere Variante der vorigen Inszenierung fehlte, die Abreise der jüdischen Exulanten aber einen hoffnungsvollen Neuanfang in Jerusalem, Amerika oder Hamburg vorweg nahm, mag unserer Gegenwart näher liegen. (Dramaturgie: Annelen Hasselwander) Das Publikum würdigte die anspruchsvolle Gesamtleistung des Ensembles sowie die beeindruckende Regie mit starkem Applaus und mehreren Bravorufen.
Eveline Figura
Nächste Vorstellungen: 27.10., 10 Uhr, 29.10. 19.30 Uhr12.11., 19.30 Uhr
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