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Pogrome in Annaberg
Die Verfolgung jüdischer Mitbürger und Andersdenkender setzte schon vor dem 9. November 1938 in Annaberg ein. Ihren Höhepunkt erreichte sie aber in jener Nacht, als der Jüdische Friedhof zerstört, die Feierhalle gesprengt und der Betsaal verwüstet wurden. Die Mehrheit der Bewohner der Stadt hörte nichts, sah nichts oder spendete dem Pogrom sogar Beifall – der mitunter bis in unsere Tage nachzuklingen scheint...
In „The New York Times“ vom 10. März 1933 war folgende Meldung zu lesen: „All Jewish Merchants Jailed By Nazis in Annaberg, Saxony: ANNABERG, Germany, March 9. - All Jewish merchants in this city, including tho manager of an electric company have been arrestet by Nazi storm troopers. Socialist and Communist leaders also were arrested...“ (ANNABERG, Deutschland, 9. März: Alle jüdischen Kaufleute in dieser Stadt, einschließlich des Leiters einer Elektrizitätsfirma, wurden von Nazisturmtrupps verhaftet. Sozialistische und kommunistische Führer wurden ebenfalls verhaftet).
Die Zeitung berichtet dann weiter, dass Annaberg ungefähr 18 Meilen südlich von Chemnitz liegt, etwa 20.000 Einwohner zählt und die Spitzen- und Posamentenindustrie die Hauptproduktionsquellen sind. Große Mengen dieser Produkte werden davon in die USA exportiert. Nach Erscheinen dieser Meldung kam es in Annaberg zu einer von der NSDAP organisierten Massenkundgebung auf dem Marktplatz, auf der die Bevölkerung in Hetzreden zum Antisemitismus und zu weiteren Aktionen gegen die Annaberger Juden aufgerufen wurde. Zeitgleich mit der Meldung in der „Times“ schrieb die „Allgemeine Chemnitzer Zeitung“: „Der stellvertretende Stadtrat Martin hat die Polizeigewalt in Annaberg übernommen. Er beurlaubte den zweiten Bürgermeister Dr. Niedner sowie die Polizeikommissare Wenzel und Morgenstern. Von der SA wurden zahlreiche Führer der KPD und der SPD verhaftet. Weiterhin wurden in Schutzhaft genommen Amtsgerichtsrat Direktor Herfurth und der Direktor des Ferngaswerkes Annaberg, Gewiontek, wurde beurlaubt.“ Am 31. März 1933 bezichtigte dann das „Tageblatt Annaberger Wochenblatt“ die „New York Times“ der Lüge. Am 1. April 1933 veröffentlichte die „Frankfurter Zeitung“ unter dem Titel „Abstempelung ins Gesicht“ folgenden Beitrag: „Berlin, 31. März 1933. (Conti) Aus Annaberg in Sachsen wird gemeldet: Hier zogen heute Vormittag vor den jüdischen Geschäften starke SS-Abteilungen auf und drückten jedem Käufer, der die Läden verließ, einen Stempel mit der Inschrift WIR VERRÄTER KAUFTEN BEI JUDEN! Ins Gesicht. Nach einer Anordnung der NSDAP dürfen die jüdischen Geschäfte erst morgen schließen...“.
Zu diesem Zeitpunkt lebten in Annaberg nachweislich noch 51 Juden, obwohl die Annaberger Zeitung von über 100 schrieb. Nur einmal in der Geschichte der Israelischen Religionsgemeinschaft wurde die Zahl von 130 Juden erreicht, das war im Jahre 1913. In den folgenden Jahren waren es nie mehr als 50 Juden, von denen ca. 20 hauptsächlich im Handel, in der Posamentenindustrie, als Arzt oder Anwalt tätig waren. Einer von ihnen, Isaac Chanange, war Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde und 1918/19 auch Mitglied des Annaberger Stadtrates.
Ab 1933 nahmen die Angriffe auch auf die Annaberger Juden ständig zu. Am 7. September 1935 meldete der Polizei-Hauptwachtmeister Dix an die Polizeiinspektion in Annaberg als Vorkommnis „Beschmieren von Schaufenstern jüdischer Geschäfte“. Am Kaufhaus EHAPE war mit grüner Farbe angebracht worden „Kauft nicht bei Juden!“. Auch an den „Schaufenstern von Chaskel in der Buchholzer, dem Kaufhaus Schmitt und der Ehape waren Bildausschnitte aus der Zeitschrift ´Der Stürmer´ angeklebt worden“ - berichtet Dix weiter, wobei die EHAPE kein jüdisches Geschäft war. Aber nicht nur die Hatz auf die Juden nahm zu, auch Andersdenkende waren im Visier der Geheimen Staatspolizei, wie ein Schreiben des Präsidenten Ziegler aus Dresden an den „Herrn Bürgermeister zu Buchholz“ vom 10. September 1935 belegt. Darin heißt es u.a.: „...Nach dem, was mir bekannt geworden ist, machen sich auch im dortigen Bezirk zum mindesten einige Inschutzhaftnahmen von marxistischen Staatsfeinden erforderlich. Ich bitte daher, eingehendst die Listen der früheren Marxisten durchzusehen und festzustellen, welche Personen, die als marxistische Staatsfeinde seit jeher bekannt sind, sich immer noch nicht umgestellt haben und nach wie vor den nationalsozialistischen Staat ablehnen, zur Inschutznahme reif sind und für eine gewisse Zeit ins Schutzhaftlager überführt werden müssen...“.
Der vorläufige Höhepunkt der Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger in Annaberg wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreicht: Die Zerstörung des jüdischen Friedhofes, die Sprengung der Begräbniskapelle und die Verwüstung des Betsaales. Der Friedhof wurde 1903 fertiggestellt und eingeweiht, aber erst 1905 ist der erste Tote hier bestattet worden. Die kleine Friedhofshalle wurde bereits früher errichtet. Einem Antrag von 1906 an die städtischen Behörden zwecks Vergrößerung wurde nicht zugestimmt. Bereits im Februar 1938 teilte der Annaberger Bürgermeister Dietze in vorauseilendem Gehorsam dem Vorstand der Israelischen Gemeinde mit, dass der Jüdischer Friedhof liquidiert werden muss.
Nach fünfunddreißig Jahren wurde in besagter Nacht, während des von den Nazis als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Judenpogroms, auch der Annaberger Friedhof der Juden zerstört (9.11.), die Feierhalle am Sonntagmorgen (10.11.) von der SA-Standarte 44 in die Luft gesprengt und der Betsaal in der Buchholzer Straße 17 verwüstet. An der Sprengung war die Annaberger Baufirma Meyer und Lochmann beteiligt. Von Protesten aus der Bevölkerung gegen diese Ausschreitungen, ist so gut wie nichts bekannt!
In einem Schreiben des Ersten Bürgermeisters von Annaberg, Dietze, an das Ministerium des Inneren vom 14. November 1938 schlägt dieser die endgültige Liquitierung des Friedhofes vor, „...da sich in Annaberg ´Gott sei Dank´ nur noch 6 männliche Juden und einige Frauen und Kinder befinden, mit deren Abzug ebenfalls gerechnet werden kann“. Als „Abzug“ wurde hier der Abtransport in die Vernichtungslager umschrieben, so dass Annaberg Ende des Jahres 1938 nahezu „judenfrei“ war, wie Dietze in einem anderen Schreiben bemerkte.
1940 wurde einige Überführungen Verstorbener auf den Chemnitzer bzw. Leipziger Jüdischen Friedhof veranlasst. Der Annaberger ist gänzlich eingeebnet worden. Grund und Boden wurden gewaltsam von der Stadt Annaberg angeeignet und im Herbst 1940 an die Speditionsfirma Schneider verpachtet. Wenige der alten Grabsteine wurden gesichert und abtransportiert. 1956 wurden 17 Annaberger Grabsteine aus Chemnitz zurückgebracht. Diese sind in drei Grabgruppen in den Neuen Christlichen Friedhof integriert und so zu einer Gedenkstätte auch für die sechs Millionen ermordeten Juden gestaltet und am 8. September 1957 als Ehrenhain eingeweiht worden. Anwesend waren damals Kantor Sander von der Jüdischen Gemeinde Leipzig, Bürgermeister Ullmann aus Annaberg-Buchholz, Kaplan Hofmann von der Katholischen Gemeinde, Pfarrer Huhn und Pastor Wohlgemuth von der Evangelischen Gemeinde bzw. Methodistenkirche. Zwei weitere Steine - aus Chemnitz kommend - sind am 9.11.2015 durch den OB Rolf Schmidt im Ehrenhain auf dem Neunen Friedhof in Annaberg-Buchholz enthüllt worden, darunter der vom ehemaligen Vorsitzenden der Israelitischen Gemeinde Annaberg - Isaac Chanange.
Schräg gegenüber vom Eingang des Erzgebirgsklinikums befindet sich ein Gedenkstein, an dem alljährlich am 9. November Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen in stillem Gedenken verweilen. Auf dem Stein steht geschrieben: „Hier befand sich der Jüdische Friedhof, der am 9.-10. November 1938 von den Faschisten geschändet und gesprengt wurde.“
red.
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