LESERPOST
ÜBER UNS
IMPRESSUM
WERBEN

Gegründet 1807

www.annaberger.info

Wiedergegründet 2011

    POLITIK   WIRTSCHAFT   KULTUR   LOKALES   HISTORISCHES   STADTFÜHRER    WEIHNACHTEN    GASTRO

 

THEATER ABC

 

 




Neunerlei/Neinerlaa im ERB-Gerichte-Film

Im September lief im KabelJournal die erste Folge einer neuen erzgebirgischen Fernsehsendung aus dem "Trakehnerhof" in Großwaltersdorf (Film dazu - hier). In "ERB-Gerichte – Treffpunkt kulinarisch unterwegs" begibt sich das Lokalfernsehen mit Gotthard B. Schicker weiter auf eine kulinarische Reise quer durch das Erzgebirge auf der Suche nach alten traditionellen Gerichten und ihrer Zubereitung in der heutigen Zeit. In der zweiten Folgen sind die Scheinwerfer auf das Berghotel Pöhlberg in Annaberg-Buchholz gerichtet. Mit Inhaber Gaston Deckert und Koch Rolf Sehm blickt Gotthard B. Schicker vorab auf das Weihnachtsfest. Gekocht und erklärt wird das historische "Neinerlaa" (Neunerlei) von 1809 mit schönen Blicken rund um den Pöhlberg und in die Gassen von Annaberg. Und wie es sich zu einem Weihnachtsfestessen gehört, wird am Tisch auch musiziert und gesungen. Peter Rehr spielt und singt das Pöhlberg- und Heiligobndlied. Reinschauen lohnt sich also! Zum Film über das authentische Neunerlei - hier.

Neunerlei – Neinerlaa
Das traditionelle Heilig-Abend-Essen im Erzgebirge
(Textauszug aus wissenschaflicher Studie von Gotthard B. Schicker / Ziel-3-Projekt 2013/2014)

Ursprünglich ist das Neunerlei (mundartlich: Neinerlaa) ein aus neun Teilen bestehendes Weihnachtsessen, das traditionell nur am Heiligen Abend um 18 Uhr in der Familie verzehrt wird. In manchen Gegenden wird auch am Silvester-Abend ein Neunerlei aufgetragen. Das Neunerlei am Heiligen Abend ist etwa ab Ende des 18. Jahrhunderts nachzuweisen (siehe „Heilig Ohmd-Lied“, 1799, Amalie von Elterlein: „...mer ham a Neinerlaa gekocht, e (a) Worscht un Sauerkraut“). Es ist zu vermuten, dass die Aufzeichnung der Amalie von Elterlein entweder auf eine frühere Quelle oder auf eigene familiäre Erfahrungen zurückgeht. Die o.g. Verszeile liegt in zwei Interpretationsformen vor: Einmal mit „...e Worscht un Sauerkraut“, und andermal mit „...a Worscht un Sauerkraut“. Daraus wurde kurzzeitig von Heimatforschern geschlussfolgert, dass es sich beim Neunerlei (ins Hochdeutsche übertragen) lediglich um eine Wurst und Sauerkraut handele, während das „a“ aus der zweiten Variante in der Übersetzung als „auch“ verstanden wurde. Durchgesetzt hat sich die „a“-Variante, weil sie auf die Mehrzahl der Speisen verweist.
Beim Neunerlei handelt sich um eine traditionelle Speisenkombination, die mit mythologischen Symbolen aufgeladen, sowohl in der Bauern- und Bergmannsküche, als auch in der bürgerlichen Küche praktiziert wurde. Selbst in Hungerzeiten wurde auf das Heiligabend-Essen hin gespart und Vorrat angelegt. Wenn auch die Zusammensetzung der Speisenfolge und der Produkte von Ort zu Ort und von Familie variieren kann, so wurde doch meist darauf geachtet, dass die mystische Zahl neun eingehalten wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Gebrauch dieses Traditionsgerichtes rückläufig. Das kann sowohl mit einer Zurückweisung der mystischen Inhalte als auch mit einer aufgeklärten Haltung gegenüber dem Aberglauben zusammen hängen. Umfragen haben ergeben, dass bis 1989 nur noch in wenigen Familien das Neinerlaa gekocht wurde. Ab 1991, mit dem Erscheinen des ersten Erzgebirgischen Kochbuches, in dem die Tradition und Zusammensetzung des Heiligabend-Essens der Erzgebirger ausführlich dargestellt wurde, setzte eine Renaissance dieses Gerichtes in erzgebirgischen Haushalten, aber insbesondere in der Gastronomie unserer Region ein.
Leider führte die neue Hinwendung zu diesem historischen Gericht auch zu seiner inflationären Ausbreitung. Zunächst fand man bereits in der Adventszeit auf nahezu jeder Speisenkarte ein Neunerlei-Angebot, dann wurde dieses Angebot in einigen Restaurants auf das gesamte Jahr (meist mit Vorbestellung) ausgedehnt. In Annaberg wurde der altehrwürdige Ratskeller in eine Gaststätte namens „Neinerlaa“ umbenannt. Dort wird das Heiligabend-Essen ganzjährig, auf speziellen Tellern mit zehn (!) Vertiefungen in drei Varianten angeboten.
Eine Alternative zu derzeitigen inflationären und damit sinnentstellenden Angeboten dieser historischen Speisenkombination könnte sein, ab dem 1. Advent bis 6. Januar dieses Gericht anzubieten und außerhalb dieser Zeit nur in absoluten Ausnahmefällen (z.B. bei Marketingaktionen, auf Messen oder als Werbemaßnahme im internationalen Rahmen). Neunerlei - Neinerlaa (Andere)

Zum historischen Neinerlaa

Überall dort, wo das Neunerlei noch nach alter Tradition und nur am Heiligen Abend  gekocht wird, werden mehr oder weniger die Maßregeln für den Heiligen Abend eingehalten, die sich oftmals mit denen von Dr. Moritz Spieß, die er im Jahre 1862 bei seinen Wanderungen zusammengetragenen hat, vergleichen lassen und die in den Jahren 1989/90 in verschiedenen Orten des Erzgebirges ermittelt wurden (vereinzelt auch im böhmischen Erzgebirge, wo es bis 1946 diesbezüglich Hinweise gibt):
So werden in einzelnen Familien keine ungeraden Kerzen auf dem Christbaum entzündet. Ebenso wird in Grünstädtel und Grumbach ein altes Säetuch als Tischtuch zum Neunerlei-Essen benutzt.
In Annaberg und Elterlein wird darauf geachtet, dass am Heiligen Abend keine ungerade Zahl von Personen am Tisch sitzt, sonst stirbt eines aus der Familie. Um diesen Spuk zu bannen, wird ein Teller mehr gedeckt - „für den fremden Gast, der noch kommen könnte“. Auch wird das Heilig-Abend-Geschirr nicht abgewaschen, ob aus Bequemlichkeit, aus überliefertem Brauchtum bzw. wegen der nachfolgenden Bescherung.
Häufig ist noch anzutreffen, dass Kleingeld unter die Teller gelegt wird, seltener Stroh unter die Tischdecke (früher in der guten Stube oder Küche). Beides jedenfalls soll für das kommende Jahr das Geld im Hause nicht ausgehen lassen bzw. das Stroh in der Krippe des Jesuskindes symbolisieren.
In Ehrenfriedersdorf bedankt man sich nicht, wenn man das Weihnachtslicht beim Nachbarn anzündet. Dort wird auch am Heiligen Abend nichts verschenkt, verborgt oder verkauft. Eine Maßregel übrigens, die von Spieß ebenfalls mit der Begründung beobachtet worden ist „... sonst gibt man den Segen weg oder wird verhext!“
Auch wird in einigen Familien daran festgehalten, das Heilig-Abend-Licht nicht vom Tisch weg mit zur Metten zu nehmen. Schon 1862 wurde davor gewarnt, „... daß dann jemand im neuen Jahr sterben werde.“
Die Maßregel, die für Elterlein bestätigt wurde „... man esse von den verschiedenen Speisen mindestens drei Löffel voll, und wenn kein Gericht ganz aufgegessen werde, so habe man immer eine volle Küche ...“, scheint unmittelbar mit den neun Gängen am Heiligen Abend zusammenzuhängen. Denn in vielen Familien, damals vielleicht teilweise mehr als heute, ist an diesem Tag besonders reichlich gekocht worden. Einmal, um die neun Speisen auch ja vollzählig auf den Tisch bringen zu können, und zum anderen, um die sonst notgedrungene spartanische Ernährungsweise im Erzgebirge (Bauern-/ Bergmannsküche) an diesem hohen Festtage vergessen zu machen.
Bei aller Unterschiedlichkeit seiner Zusammensetzung von Ort zu Ort, von Familie zu Familie, bilden sowohl die Linsen als auch die Klöße und selbstverständlich die Zahl NEUN (auch als Verdreifachung der Hl. Dreifaltigkeit gedeutet), die verbindenden Elemente des Neunerleis. Es sind also immer wieder die übrigen sieben Gerichte, die z. T. beträchtlichen Variationen unterliegen.
Mehrfach wird in der Literatur der diesbezügliche Vers aus dem „Heilig-Abend-Lied“ der Annabergerin Amalie von Elterlein benannt. Weniger bekannt ist der Hinweis auf das Neunerlei im „Heilig-Obnd-Lied“ von Max Schreyer (dem Dichter des „Vugelbebaam“), der 1896 - sicher in Anlehnung an die bekannte Vorgängerin – dichtete: „Mir habn heit Kließ un Sauerkraut un Sellerisulat. De Klaane ißt de Kließ net gern, die kriegt e Rauche Mad.“

Christian Gottlob Wild, der das Erzgebirge um 1809 zur Weihnachtszeit von Neustädtl aus beschrieb, weiß zu berichten, dass dort am Heiligen Abend „... Semmelmilch, Hering mit Milchbrey oder mit Äpfelsalat, oder Sauerkraut mit Wurst, wobei das Gläschen Schnaps nicht fehlen darf ...“ neben den bereits bekannten Speisen aufgetischt wurden. Da Wild eine nähere Erklärung zur Semmelmilch schuldig bleibt, sei hier die von Hugo Köhler angeführt (1824): „De Mutter bracht noch e grüße Schüss’l Semmelmillich rei, dos war kalte blaue Millich, in die Sammelstückle neigebrockt warn. De Schüss’l kam mittn of’n Tisch. Alles setzt sich rundrüm, un’s Löffl’n gang lus.“ Die Beobachtungen, welche Moritz Spieß 1862 zum Neunerlei aufgeschrieben hat, sind die informativsten, und sie stimmen am meisten auch heute noch mit der Traditions- und Brauchtumspflege im Hinblick auf das Neunerlei im Erzgebirge (mehr in den Privathaushalten, weniger in den Gaststätten) überein.
Deshalb soll sein historisches Neunerlei - auch als mögliche oder verbindliche Rezeptempfehlung - hier wiedergegeben werden:
„1. Bratwurst oder Schweinebraten mit Linsen, letztere damit man im kommenden Jahr viel Geld einnimmt oder besitzt
2. Häring mit Apfelsalat
3. Grütze oder Hirsebrei - damit das Geld nicht ausgeht
4. Buttermilch, damit man keine Kopfschmerzen bekomme, oder Semmelmilch, damit die Spitzen weiß bleiben
5. Rothrübensalat, damit man rothe Backen behält, oder Krautsalat oder Erdäpfelsalat
6. Süßkraut, damit die Arbeit leichter werde oder Sauerkraut mit Braten oder Wurst, auch Karpfen, Schöpsenfleisch und Weißkraut
7. Klöße, damit viele Thaler einkommen
8. Getrocknete Pilze, sauer oder gedämpft
9. Gebackene Pflaumen.“Titel ERB-GERICHTE deutsche Ausgabe II (Andere) (2) (Andere)

Die Suppe scheint eine recht zwiespältige Angelegenheit beim Neunerlei zu sein. Während in einigen Gegenden z. B. Fischsuppe oder Biersuppe mit Mandeln und Erdäpfeln als eines der neun Bestandteile gereicht wird, warnt Moritz Spieß davor: „Man genieße keine Suppe, sonst tropft die Nase das Jahr hindurch (Ehrenfriedersdorf) und man esse keine Kartoffeln, sonst bekommt man Schwäre (Sosa), wird auch Erbsen zugeschrieben (Annaberg)!

ERB-GERICHTE - Vom Essen und Trinken im sächsisch-böhmischen Erzgebirge - Eine genussreiche Kulturgeschichte mit vielen historischen Rezepten aus dem Erzgebirge
(Autor: Gotthard B. Schicker, 250 Seiten, reich Illustriert, 14,95 Euro, ISBN ). Bestellungen hier.

Im böhmischen Erzgebirge wird zum Heiligen Abend traditionell Fisch, meist panierter Karpfen, serviert. Schließlich ist im katholischen Böhmen dieser Tag der letzte in der weihnachtlichen Fastenzeit. Mit den deutschen Aussiedlern kam 1945/46 diese Fisch-Tradition am Heiligen Abend auch in das sächsische Erzgebirge und wurde hier eine Zeitlang gepflegt. In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es zu Mischformen von Fleisch- und Fischgerichten. So wurde in einigen Familien mit böhmischen Migrationshintergrund das Neunerlei mit einer Fischsuppe (aus Karpfenkarkasse) und paniertem Karpfenfilet eingeleitet, um dann die anderen Speisen anzuschließen. Um auf die Zahl Neun zu kommen, wurde z.B. auf die Semmelmilch und den Selleriesalat bzw. auf das Dörrobst verzichtet. Eine Tradition, die teilweise auch heute noch, insbesondere in der Grenzregion des sächsischen Erzgebirges, anzutreffen ist und z.B. beim gemeinsamen Kochen des „Neunerlei“ durch sächsische und böhmische Azubis am 12.12.2013 in Annaberg-Buchholz von böhmischer Seite (mit paniertem Karpfen) eingebracht wurde.

G.B.S.