|
Wo das Publikum nach Seife riecht
Der weltbekannte österreich-ungarische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth (u.a. „Radetzkymarsch“, „Hiob“, "Kapuzinergruft“) besuchte vor 90 Jahren eine Aufführung des Annaberger Theaters „auf sächsisch“ und hat für das hiesige Publikum sowie für die Darsteller freundliche Worte hinterlassen.
Geboren wurde Joseph Roth 1894 im galizischen Schtetl Brody. Bevor er als Freiwilliger am ersten Weltkrieg teilnahm, studierte er Germanistik und Philosophie in Lemberg und Wien. Sein unstetes und von zahlreichen Legenden umwobenes "Hotelleben", wie er seine andauernden literarischen und persönlichen Wanderjahre nannte, führten den Juden Roth noch vor seiner Emigration (1933) nach Österreich und Frankreich auch in unser Erzgebirge. Besonders beeindruckt scheint er von der Premiere des „Lumpazivagabundus” vom Österreicher Johann Nestroy gewesen zu sein, die er zu seinem großen Erstaunen am 10. Juni 1925 im Annaberger Theater „auf Sächsisch” und in einer Loge für 2,50 Mark mit allen „Wonnen eines Inkognitos” genießen durfte. Vermutlich befand sich sein Theater-Platz im 2. Rang. Denn nur von dort aus konnte er überlegen auf die Honoratioren der Stadt, „auf die Bürger ersten Ranges”, herabblicken, die schon damals die Plätze auf dem ersten Rang einnahmen. Mit Verwunderung registrierte er allerdings eine seltsame Ordnung, indem zwischen der ersten Reihe und jener, in der das einfache Publikum saß, ein leerer Raum war; eine ganze Stuhlreihe aus Respekt frei blieb. „In kleinen Städten ist man etwas, wenn man etwas ist, körperlich, nicht nur metaphorisch, weithin erkennbar, allen sichtbar...” - kommentiert er ironisch diese damals in Annaberg anzutreffende „Volksnähe” der gewählten Volksvertreter in seinen Reiseerzählungen. Er schreibt wenig über das gesehene Stück. Vielmehr interessieren ihn die scheinbar unbedeutenden Nebendinge: Der helle, karierte und viel zu weite Anzug des Konzertmeisters etwa, der nach seiner Auffassung viel eher vom Bassgeiger hätte getragen werden müssen, der aber einen viel zu engen an hatte. Die soziale Situation der Annaberger Musiker Mitte der 20er Jahre wird von Roth nicht vordergründig ausgestellt. Er rechnet vielmehr mit dem wertenden Leser, wenn er feststellt „und keiner von den Herren trug ein ihm gemäßes Kleid”. Angetan war er ebenso von der Versenkung, die nach seiner Auffassung einer Großstadtbühne würdig gewesen wäre. Oder von dem bis in den zweiten Rang schon damals hörbaren Souffleur, bzw. sein Blick in die Welt der Illusion hinter die Kulissen, wo für ihn durchaus die „Konstruktion des Wunders auch ein Wunder” sein kann. Seine Meinung über die Annaberger Mimen ist von großer Nachsicht und mit leicht ironischem Verständnis für ihre (damalige?) Lage gekenn-zeichnet: „Es war alles so ergreifend menschlich: man sah die Nöte des Anfängers und das Ende des Verkommenen, die Hoffnung und die Gleichgültigkeit, die kleine Gage und die große Anstrengung...”.
Lumpazivagabundus - Aquarell von Rudolf Köselitz (Annaberg)
Viel günstiger bedenkt er dagegen das Annaberger Premieren-Publikum an jenem Sommertag des Jahres 1925. Besonders froh schien er darüber zu sein, dass sich im Theater und in den sehr langen Pausen in den Foyer-Umgängen keine Leute vom Fach befanden. Es war für ihn erholsam ein „reines Publikum” im doppelten Sinne zu erleben: Rein und unberührt von tatsächlicher oder ausgestellter Kennerschaft; Leute eben, die das Theater nicht wichtiger nahmen als es tatsächlich ist. Und „die Leute rochen sauber nach Seife, nicht nach Literatur, sie waren durchsichtig wie blank geputzte Fensterscheiben. Sie begeisterten sich nicht, sie zollten ehrlichen Beifall!” Besonders wohltuend soll es für die hiesigen Schauspieler und Sänger gewesen sein - nahm Roth sicher irrtümlich an - dass sie keine Angst vor den Kritiken in den Morgenblättern haben mussten, wie ihre Künstler-Kollegen in Chemnitz, Leipzig oder gar Berlin. Damals schon hing hier dieses Damokles-Schwert in der Requisitenkammer und war aus Pappe, einem Material, „welches kein so gefährliches ist wie Zeitungspapier”.
Joseph Roth wird sich etwa einen reichlichen Monat im Erzgebirge aufgehalten haben. Denn im Mai des gleichen Jahres, noch bevor er sich mit dem Leben und Leiden der Weber u.a. im Erzgebirgsdörfchen Gnadenfrei befasste, schrieb er einen Text über den „Rebell des Erzgebirges”. Nachdem er dort zunächst recht ausführlich die Historie vom Stülpner-Karl beschreibt, kommt er zu abschließenden Wertungen, die zwar nicht allesamt neu, aber vielleicht wieder neu zu durchdenken wären. Auch im Hinblick einer längst überfälligen dramaturgischen Aufbereitung und dramatischen Umsetzung dieses Stoffes für die Greifensteiner Freilichtbühne, auf der das Annaberger Theater in den zurückliegenden Jahren das Stück in etlichen Fassungen, fast immer erfolgreich, vor viel „reinem Publikum” gespielt hatte. Für Roth ist unser „Grüner Rebell” aus dem Erzgebirge „einer der ersten deutschen Revolutionäre, der Vertreter des unbekannten, verkannten und als spießerhaft verschrienen oder gewaltsam zum Spießertum erzogenen deutschen Volkes, das Blut hat und wirkliche Empörer hervorbringt. Nur, daß man sie nicht kennt. Wo sind die Dichter, die sich dieser wirklich deutschen Menschen annehmen? In welche Ferne schweifen Autoren, um Helden zu finden!”
Joseph Roth nahm sich Zeit seines kurzen, kranken und verfolgten Lebens solcher „Helden des Alltags“ an. Mit hellwachem Verstand, einer leisen, fast weisen Ironie, die nie von Häme, sondern eher von Liebe, Wärme und Nachdenklichkeit gekennzeichnet ist, reagiert er auf die Zeitereignisse in der Weimarer Republik und dem heraufquellenden Faschismus. Er liebte seine Heimat, sein deutsches Volk, das nicht erst über Nacht schließlich auch in Roth einen jener „Untermenschen” sah. Derlei Schwache, auf die man seinen ganzen angestauten sozialen Frust - nunmehr staatlich sanktioniert und später mörderisch betrieben - abladen konnte. Dies unbeschadet zu überstehen, war auch dem sensiblen Künstler Joseph Roth nicht die Kraft gegeben. Er, der für die Annaberger Premieren-Besucher von einst so ehrliche und freundliche Worte fand, konnte es schwer begreifen, dass viele dieser Leute applaudierten, als nur wenige Jahre später das Gebetshaus der Juden in Annaberg v erwüstet wurde und an jüdischen Geschäften in der Stadt eine kleine erzgebirgische „Kristallnacht” inszeniert wurde. Seelisch und körperlich an diesem Deutschland zerbrochen, starb er 1939 alkoholkrank in einem Pariser Armenhospital.
G.B.S.
|