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Welt als gefährliches Tollhaus

Mit „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt hat am vergangenen Sonntag ein noch immer überaus aktuelles Werk seine nachdenkliche und damit erfolgreiche Premiere am Annaberger Eduard von Winterstein-Theater erlebt.

Wer sich bei Dürrenmatts „Physikern“ vom Untertitel “Komödie” auf dem nicht besonders einladend daher kommenden Plakat der jüngsten Inszenierung des Annaberger Theaters verleiten lässt, dürfte enttäuscht sein, da ihn keine zum Schenkelklopfen animierende Vorstellung erwartet. Die Auffassungen des schweizerischen Schriftstellers und Bühnenautors geht beim Komödienbegriff  nicht in Richtung Lustspiel, sondern sein Stoff ist vielmehr von tragisch-komischen, überwiegend aber grotesken Momenten durchzogen, die durchaus an Verfremdungseffekte eines Bertolt Brecht erinnern und von der Regisseurin – der Berghaus- und Neuenfels-Schülerin - Sabine Loew bewusst genutzt werden. Unterstützt wird das Bühnengeschehen von einer logischen, zurückhaltenden und funktionalen Ausstattung (Cornelia Falkenhan).
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Wenn das Werk auch 1961 geschrieben wurde und im Kalten Krieg die Bedrohung eines Atomkrieges - auch im Zusammenhang mit der Kuba-Krise 1962 – nahe lag, so hat es angesichts zusätzlicher Bedrohungsmöglichkeiten in Form von Cyberkrieg, Genmanipulation, Klimawandel, Globalisierung des gesamten Lebens oder gesteuerte Interessen geleitete Verbrauchermanipulation zum Nachteil großer Gruppen von Mensch an Aktualität nichts eingebüßt – im Gegenteil.
Die Titelfiguren sind drei Physiker, die als Patienten in einer privaten psychiatrischen Klinik leben. Herbert Beutler, der sich Newton nennt: Markant, skurril und letztlich bemittleidenswert gespielt von Udo Prucha. Ernst Ernesti, alias Einstein, in einer tragisch-komischen Charakterstudie trefflich gegeben von Dennis Pfuhl. Beide arbeiten für fremde Mächte, die einem Dritten das Geheimnis der Atombombe entlocken wollen: Das ist Johann Wilhelm Möbius, dem der „weise Salomon“ erschienen ist, ein Wissenschaftler, der eben diese Bomben-Entdeckung in Gestalt der „Weltformel“ gemacht hat, die die Gefahr der Vernichtung der Welt in sich birgt und damit zur zentralen Frage des Stücks nach der politisch-moralischen Verantwortung der Wissenschaft und des einzelnen Wissenschaftlers führt. Physiker_GP-8653 (Andere)
Dürrenmatt verknüpft diese Thematik mit seiner Dramentheorie, nach der jede Geschichte, ausgelöst durch den Zufall, die schlimmstmögliche Wendung nehmen sollte. Großartig gespielt diese Brüche – wie nicht anders zu erwarten – von Nenad Žanić, der auch die Zerrissenheit jener Figur zwischen tatsächlichem Genie und gespieltem Wahnsinn berührend über die Rampe bringt und uns seine Flucht aus dem Welt-Tollhaus da draußen in die Welt des Irrenhauses da drinnen – die sich beide so ähnlich sind - erschreckend verdeutlicht. Darstellerisch gekonnt auch der Wandel der Irrenärztin Dr. Mathilde von Zahnd von der resoluten Anstaltsleiterin zur diabolischen „Weltbeherrscherin“, die die Weltformel an sich reißen will. Tamara Korber gelingt diese Entwicklung zum Bösen gegen Dörrenmatts „guten Menschen“ in beeindruckender Weise. Im zweiten Akt erhält ihr ekstatischer Tanz, der an den der Salome erinnert, noch lautstarke und bildmächtige Unterstützung durch Videoeinblendungen, die möglicherweise bei einem Einsatz auch im ersten Akt die dort vorhandenen, etwas ermüdend wirkenden Dialoge hätten aufbrechen helfen können. Physiker_GP-8680 (Andere)
Marie-Louise von Gottberg war gleich in drei Rollen zu erleben: Als Ober- und Krankenschwester sowie als Missionarsgattin Lina Rose überzeugte sie durch differenzierte Spielweise und formulierte diese unterschiedlichen Charaktere professionell aus. Matthias Stephan Hildebrandt hat als Missionar Oskar Rose zwar nur eine kleine Rolle, aber die steht im Raum und sorgt für Nachdenken über die Funktion des Christenmenschen in diesem Tollhaus Welt.
Die androgyn angelegte Figur des Kriminalinspektors Richard Voss mit der als Gast engagierten Christiane Schlott bringt die Unfähigkeit, Unbeholfenheit und Korumpierbarkeit der Administration in Form der Staatsmacht zum Ausdruck. Hier hätte eine schärfere Figurenzeichnung seitens der Regie der Rolle und der Darstellerin gut getan.

Der Ensemble-Neuzugang Philipp Adam war in der Figur des Oberpfleger Sievers überzeugender als in der des möglicherweise überflüssigen Stück-Erklär-Conférenciers, in der er dann doch ein bisschen zu sehr an jenen aus „Kabaret“ erinnerte.

Es ist mutig und sehr verdienstvoll, dass das Annaberger Theater dieses überaus aktuelle und sehr anspruchsvolle Werk der Weltliteratur – sowohl hinsichtlich der dramaturgischen als auch in der darstellerischen Umsetzung - auf die Bühne gebracht hat. Obwohl das Dürrenmatt-Werk auf den Lehrplänen unserer Schulen als Pflichtliteratur zu finden ist, sollte es ebenso eine freudige Pflicht – nicht nur für die Schüler und Schülerinnen - bedeuten, die gelungene dramaturgische Umsetzung (Silvia Giese) an unserem Theater zu erleben, um hoffentlich persönliche Schlussfolgerungen für aktives Handeln in unserer Gesellschaft - die mitunter auch ein gefährliche Tollhaus zu sein scheint - zu ziehen.

red.

Fotos: Dirk Rückschloß / BUR