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Willy Rochs Sichtweisen auf Annaberg

Nach fast 70 Jahren ist das Maschinen-Manuskript der Annaberger Chronik von Willy Roch der Jahre von 1496 bis 1946 erstmals gedruckt erschienen. Personen- und zeitbedingt weißt sie allerdings Lücken auf, die auch eine Anschauung von der Welt des Autors vermitteln.   

Es handelt sich bei der Herausgabe der Chronik „Annaberg 1496-1946“ von Willy Roch zunächst um ein verdienstvolles Unterfangen von Edith und Karl Drechsler sowie dem Erzgebirgsmuseum unter der Leitung von Wolfgang Blaschke basierend auf der Anregung durch den Erzhammer (Leitung Dr. Gabriele Lorenz).
Annaberg alt

Schließlich hat das Schreibmaschinen-Manuskript fast 70 Jahre im Museum geschlummert und war dort den Heimatforschern unter Vorbehalt zugänglich. Die hatten allerdings stets eine Reihe anderer Chroniken über Annaberg und Umgebung zur Verfügung, auf die auch Willy Roch in seiner Sicht auf unsere Stadt zurück gegriffen hat. Schließlich brauchte er die Zeit von der Stadtgründung bis 1896 nicht neu erfinden. Die ist von Albinus/Jenisius bis Finck/Grohmann gut dokumentiert und für Interessierte zugänglich. Insofern ist es ebenso verdienstvoll von Roch, dass er sich der Folgezeit bis zum 450 Stadtjubiläum angenommen hat, um diese Lücke zu schließen. Willy Roch 1893-1977
Leider ist diese Chronik aber auch nicht frei von weißen Flecken, wie keiner Chronik jemals Vollständigkeit anhaften kann. Schließlich ist jede Chronik auch eine subjektive Reflexion des Chronisten über Ort und Zeit.
Es hängt oft vom Bildungsstand, der Herkunft, der Anschauung von der Welt oder der Quellenlage des jeweiligen Schreibers ab, der die Historie einer Stadt oder eines geografischen Großraumes historisch abbildet und bewertet. Von daher sind die Lücken in der Chronik bei Willy Roch allerdings weniger einem Quellen- oder Bildungsmangel zuzuschreiben, sondern eher seiner Weltanschauung, die von der Kaiserzeit, aber insbesondere von den beiden Weltkriegen und der dort herrschenden Ideologie beeinflusst wurde.
Roch war vom deutschen Nationalismus geprägt und nicht nur vom „übersteigerten Patriotismus“, wie dies verkleinernd im Vorwort anklingt. Der Offizier des Ersten Weltkrieges, der Parteigenosse der NSDAP (seit 1937) und der Batallions-Kommandeur (Major) im Zweiten Weltkrieg, der den Russlandfeldzug mitmachte, hat sein Weltbild mit in die Betrachtungen und Wertungen über seine Stadt eingebracht. Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus hat bei Roch 1946 gerade einmal begonnen, was man teilweise seinen etwas aufgesetzt wirkenden Bemerkungen zur neuen Zeit anspürt, schließlich ginge es auch darum, den nunmehr Verantwortlichen der Stadt eine Chronik-Fassung vorzulegen, die auch eine Chance hatte, gedruckt und veröffentlicht zu werden.
Eine wichtige Quelle, neben den bekannten Chroniken, war für Roch sicherlich das
Annaberger Wochenblatt, das seit 1807 relativ zuverlässige Fakten zu Stadtentwicklung, den hiesigen Ereignissen und zu zahlreichen Persönlichkeiten liefert. Dieses überreiche Material musste gesichtet und ausgewählt werden. So finden wir neben bekanntem und neuem Faktenmaterial aus dieser Zeit dennoch beträchtlich Lücken in der Roch-Chronik. Sachverhalte, die ihrer Relevanz wegen durchaus hätten aufgenommen werden müssen, zumal sie im genannten Medium vorhanden sind.
Durch Rochs amputierte Geschichtsdarstellung wird so einmal mehr der ideologische Entwicklungsstand des Chronisten in diesen Jahren deutlich. Nur wenige Beispiele für solche Fehlanzeigen: Eröffnung des Jüdischen Friedhofs (1903), Verhaftung jüdischer Kaufleute (1933 – The New York Times berichtete über die Vorgänge in Annaberg)
Zerstörung des Jüdischen Friedhofs und Sprengung der Friedhofshalle, „Reichskristallnacht“ (1938), Hunger- und Erwerbslosendemonstrationen, Streiks- und Generalstreiks (1915/1920/1921/1923/1929), Pöhlbergschlacht (1923 – ein Toter, 25 Verletzte), Massenverhaftungen durch Reichswehr (1923), Protestaktion des Mittelstandes mit ca. 3.000 Personen (1926), Hungermarsch durch Annaberg (Zusammenstoß mit Polizei, 1930), kein Wort zu den Freimaurern... - diese Ereignisse und noch viele mehr sind von Roch nicht etwa vergessen, sondern bewusst weggelassen worden. Der Besuch Hitlers in Annaberg erhielt dafür ausführliche Zeilen.
So wird es vermutlich dann auch seine Vergangenheit sowie der auf seiner Weltsicht beruhende Umgang mit der Gegenwart um 1946 und danach gewesen sein, der ihn für den neuen Staat – insbesondere im Schuldienst - als nicht mehr verwendungsfähig markierte. Es folgten mehrere Verhaftungen, Verhöre und schließlich 1948 die Verurteilung zu zehn Jahren Arbeitslager, in dem er fünfeinhalb Jahre verbüßte. Im Jahre 1954 übersiedelte er in die alte Bundesrepublik.
Das Militärgericht und die sowjetische Administration ging einst davon aus, dass ein Batallions-Kommandeur der Wehrmacht, der noch dazu in der Sowjetunion aktiv war, nicht unschuldig sein kann. Eine Vermutung, die durch neuere Erkenntnisse der historischen Wissenschaften und aufgefundene Dokument – u.a. auch in russischen Archiven - leider in wesentlichen Teilen bestätigt werden. Willy Roch 2
In der vergeblichen Hoffnung, dass sein Chronik-Manuskript vielleicht doch noch gedruckt erscheinen könnte, überarbeitet er es 1969 noch einmal. Davon ist dann eines im Erzgebirgsmuseum gelandet.
Dennoch kann wiederholt werden, dass sich – bei allen subjektiv bedingten Mängeln einer möglichst objektiven Geschichtsreflexion – Willy Roch auch mit dieser Zusammenfassung der damaligen Ereignisse aus seiner Sicht für die Stadt verdient gemacht hat. Darüber hinaus muss sein Engagement im Erzgebirgszweigverein, aber insbesondere bei der Adam-Ries-Forschung hervorgehoben werden. So gesehen ist es richtig wie im Vorort bemerkt wird - und auch für heute noch in seiner Person und Biographie begründet - , dass nur „wenige Annaberger so widersprüchlich wahrgenommen und beurteilt wurden wie der Heimatforscher Willy Roch“.  

Übrigens: Ein zweispaltiges Seiten-Layout hätte die Lesbarkeit erhöhen, und eine informativere Fotoauswahl sowie bessere Bildbearbeitung den Band illustrativ bereichern können.

red.

Willy Roch: Annaberg 1496-1946, Herausgegeben von Edith und Karl Drechsler,
Mitherausgeber: Erzgebirgsmuseum Annaberg-Buchholz,
trafo Verlagsgruppe, Finkenstraße 8, 12621 Berlin, 2015,
240 Seiten, ISBN 978-3-86465-057-4, 24,80 Euro