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Vum Neinerlaa – Vom Neunerlei
Vom legendären Heilig-Abend-Mahl im deutschen Weihnachtsland - dem ERZGEBIRGE
Überall dort, wo das Neunerlei noch gekocht wird, werden mehr oder weniger weitere Maßregeln für den Heiligen Abend eingehalten, die sich oftmals mit denen von Dr. Moritz Spieß im Jahre 1862 zusammengetragenen vergleichen lassen. Eine Spurensuche.
So werden in einzelnen Familien keine ungeraden Kerzen auf dem Christbaum entzündet. Ebenso wird in Grünstädtel und Grumbach ein altes Säetuch als Tischtuch zum Neunerlei-Essen benutzt.
In Annaberg und Elterlein wird darauf geachtet, daß am Heiligen Abend keine ungerade Zahl von Personen am Tisch sitzt, sonst stirbt eines aus der Familie. Um diesen Spuk zu bannen, wird ein Teller mehr gedeckt - „für den fremden Gast, der noch kommen könnte“.
Auch wird da und dort das Heilig-Abend-Geschirr nicht abgewaschen, ob aus Bequemlichkeit, aus überliefertem Brauchtum bzw. wegen der nachfolgenden Bescherung, war nicht auszumachen. Häufig ist noch anzutreffen, dass Kleingeld unter die Teller gelegt wird, seltener Stroh unter die Tischdecke (früher in die Stube geschüttet als Symbol für das Stroh in der Krippe). Beides jedenfalls soll für das kommende Jahr auch das Geld im Hause nicht ausgehen lassen.
In Ehrenfriedersdorf bedankt man sich z. B. nicht, wenn man das Weihnachtslicht beim Nachbarn anzündet. Dort wird auch am Heiligen Abend nichts verschenkt, verborgt oder verkauft. Eine Maßregel übrigens, die von Spieß ebenfalls beobachtet worden ist mit der Begründung „... sonst gibt man den Segen weg oder wird verhext!“
Auch wird durchaus in einigen Familien daran festgehalten, das Heilig-Abend-Licht nicht vom Tisch weg mit zur Metten zu nehmen, sonder nur die Laterne wird daran angezündet. Schon 1862 wurde davor gewarnt, „... daß dann jemand im neuen Jahr sterben werde.“
Die Maßregel, die in Elterlein bestätigt wurde „... man esse von den verschiedenen Speisen mindestens drei Löffel voll, und wenn kein Gericht ganz aufgegessen werde, so habe man immer eine volle Küche ...“, scheint unmittelbar mit den neun Gängen am Heiligen Abend zusammenzuhängen. Denn in vielen Familien, damals vielleicht teilweise mehr als heute, ist reichlich gekocht worden.
Einmal, um die neun Speisen auch ja vollzählig auf den Tisch bringen zu können, und zum anderen, um die sonst notgedrungene spartanische Ernährungsweise im Erzgebirge an diesem hohen Festtage vergessen zu machen. Man sparte und hamsterte das ganze Jahr über, um am Heiligen Abend ein Festessen, eben das Neinerlaa, zu haben.
Doch was ist das nun eigentlich das Neunerlei oder Neinerla - und aus welchen Teilen besteht es?
Bei aller Unterschiedenheit seiner Zusammensetzung von Ort zu Ort, von Familie zu Familie, bilden sowohl die Linsen als auch die Klöße, und selbstverständlich die magische Zahl 9 (Verdreifachung der Hl. Dreifaligkeit: Gott Vater, Sohn und Hl. Geist), die verbindenden Elemente. Es sind also immer wieder die übrigen sieben Gerichte, die z. T. beträchtlichen Variationen unterliegen. Wichtig ist, das Neunerlei als Neun-Gänge-Menü zu servieren, also nacheinander, und nicht wie heutzutage oft aus hektischen Beweggründen oder touristischer Anbieterung, die Speisen auf einem Teller mit neun (mitunter sogar zehn) Vertiefungen vor den fremden Gast hingestellt werden. Und worüber sich der Einheimische - nach gewohnter erzgebirgischer Art - auch schon nicht mehr aufregt. Dabei handelt es sich beim Verzehr des Neunerlei um ein genussvolles, besonderes Ritual, das Ruhe, Gelassenheit und Besinnlichkeit am Tisch und in der Stube verbreiten soll... Mehrfach ist in der Literatur der Vers aus dem „Heilig-Abend-Lied“ der Annabergerin Amalie von Elterlein benannt worden, die schon 1799 das Neinerlaa erwähnt. Weniger bekannt ist vielleicht der Hinweis auf’s Neunerlei im „Heilig-Obnd-Lied“ von Max Schreyer, der 1896 (sicher in Anlehnung an die bekannten Vorgängerin) dichtete:
„Mir habn heit Kließ un Sauerkraut un Sellerisulat. De Klaane ißt de Kließ net gern, die kriegt e Rauche Mad.“
Christian Gottlob Wild, der das Erzgebirge um 1809 zur Weihnachtszeit von Neustädtl aus beschrieb, weiß zu berichten, daß dort am Heiligen Abend „... Semmelmilch, Hering mit Milchbrey oder mit Äpfelsalat, oder Sauerkraut mit Wurst, wobei das Gläschen Schnaps nicht fehlen darf ...“ neben den bereits bekannten Speisen aufgetischt wurden. Da uns Gottlob Wild eine nähere Erklärung zur Semmelmilch schuldig bleibt, sei hier die von Hugo Köhler (8124) angeführt: „De Mutter bracht noch e grüße Schüss’l Semmelmillich rei, dos war kalte blaue Millich, in die Sammelstückle neigebrockt warn. De Schüss’l kam mittn of’n Tisch. Alles setzt sich rundrüm, un’s Löffl’n gang lus.“
Vieles könnte hier noch aus der Literatur, der Lyrik und aus dem Liedgut der Vergangenheit und Gegenwart sowie aus eigenem Erleben mitgeteilt werden. Eine Besonderheit dürfte noch die historische Unterscheidung in ein katholisches und in ein protestantisches Neunerlei darstellen: Dort wo Fisch mit auf den Tisch kommt, handelt es sich um Einflüsse aus dem überwiegend katholischen Böhmen, wo der Hl. Abend noch ein Fastentag ist. Im protestantischen Sachsen findet man neben der fleischigen Variante, auch das Neunerlei mit Fleisch (hauptsächlich Bratwurst) und Fisch (Fischsuppe und/oder gebackener Karpfen) vor - eben ein frühes “ökumenisches Neinerlaa”, das sich bis heute in den meisten Haushalten in dieser gemischten Form erhalten hat. Es scheint aber, dass die Beobachtungen, welche Moritz Spieß vor über hundert Jahren zum Neunerlei im sächsischen Erzgbeirge aufgeschrieben hat, die informativsten sind und vielleicht am ehesten auch heute noch mit der Traditions- und Brauchtumspflege in unserem Erzgebirge übereinstimmen.
Deshalb soll „sein Neunerlei“, - vielleicht auch als Rezeptempfehlung - hier im Original wiedergegeben werden:
1. Bratwurst oder Schweinebraten mit Linsen - letztere damit man im kommenden Jahr viel Geld einnimmt oder besitzt
2. Häring mit Apfelsalat - damit wir “fischelant” (beweglich) bleiben
3. Grütze oder Hirsebrei - damit das Geld nicht ausgeht
4. Buttermilch - damit man keine Kopfschmerzen bekomme, oder Semmelmilch, damit die Spitzen (Klöppelspitzen an den Kleidern) weiß bleiben
5. Rothrübensalat - damit man rothe Backen behält, oder Krautsalat oder Erdäpfelsalat
6. Süßkraut - damit die Arbeit leichter werde oder Sauerkraut mit Braten oder Wurst, auch Karpfen (in Böhmen), Schöpsenfleisch und Weißkraut
7. Klöße - damit viele Thaler einkommen
8. Getrocknete Pilze - sauer oder gedämpft - damit wir die Früchte des Waldes ehren
9. Gebackene, gedörrte Pflaumen - damit uns das Leben nicht verdörren möge.
Die Suppe scheint eine recht zwiespältige Angelegenheit beim Neunerlei zu sein. Während in einigen Gegenden z. B. Fischsuppe oder Biersuppe mit Mandeln und Erdäpfeln als eines der neun Bestandteile gereicht wird, warnt Spieß davor: „Man genieße keine Suppe, sonst tropft die Nase das Jahr hindurch (Ehrenfriedersdorf) und man esse keine Kartoffeln, sonst bekommt man Schwäre (Sosa), wird auch Erbsen zugeschrieben (Annaberg)!“
Man muss es eben einmal selbst erlebt haben im Erzgebirge: Wenn am Heiligen Abend um Sechse (pünktlich 18 Uhr) die Glocken über die Berge Weihnachten läuten, ein echter, nach Wald duftender Christbaum, Engel und Bergmann, der Nussknacker, der Schwibbogen, die Leuchterspinne und die alte „Peremed“ (Pyramide) im festlichen Lichterglanz erstrahlen. Wenn dann noch ein Original Crottendorfer Räucherkerzchen seinen Duft aus dem verqualmten Maul vom „Raachermannl nabelt“ - dann fehlt eigentlich nur noch das „Neinerlaa“ mit all seinen Ritualen, die nur der echte Erzgebirger kennt und pflegt. Und wenn später die alten erzgebirgischen Weihnachtslieder wieder mehr und mehr live, wie man neudeutsch sagt, gesungen werden, um die Zeit bis zur Bescherung oder den Stollenanschnitt vor dem Gang zur Mitternachtsmetten zu überbrücken, dann war das ein Heiliger Abend im Erzgebirge, den keiner so schnell vergessen dürfte.
Gotthard B. Schicker
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